K214 | Soziale Ungleichheit: ein aus besinnungsloser Naturbeherrschung zwangsläufig Folgendes, Sekundäres
23. Mai 2020 |
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Es sei an dieser Stelle ein ungewohnter Gedanke formuliert: Die von den Menschen besinnungslos betriebene Naturbeherrschung ist das Primäre, die soziale Ungleichheit dagegen das daraus Folgende, das Sekundäre. Der Gedanke ist extrapoliert aus der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die besinnungslos betriebene Naturbeherrschung geht mit besinnungsloser Beherrschung der äusseren und inneren Natur der Menschen sowie mit besinnungsloser Beherrschung von Menschen durch Menschen einher, wobei letzteres – bei Horkheimer und Adorno so nicht expliziert – zu sozialer Ungleichheit führt. Zusätzlich ist mit einer Rückkoppelung dergestalt zu rechnen, dass die soziale Ungleichkeit umso mehr nach besinnungslos betriebener Naturbeherrschung verlangt, je stärker sie in einer Gesellschaft verankert ist. Die besinnungslos betriebene Naturbeherrschung dient der Beibehaltung sowie Beförderung sozialer Ungleichheit. Wenn dem so ist, dass die soziale Ungleichheit gegenüber der besinnungslosen Naturbeherrschung ein Sekundäres darstellt, dann müssen alle Versuche der Bekämpfung der soziale Ungleichheit, die losgelöst von der Frage besinnungsloser Naturbeherrschung betrieben werden, ins Leere laufen. Und wenn diese Versuche spezifisch dann gar – wie es heute wirklich die Regel zu sein scheint – auf dem Paradigma besinnungsloser Naturbeherrschung beruhen, dann müssen sie zwangsläufig auf das Gegenteil des Intendierten, auf die zusätzliche Verstärkung der sozialen Ungleichheit hinauslaufen. Der bürgerliche Prototyp eines sich ins Gegenteil verkehrenden Mittels gegen die soziale Ungleichheit stellt die möglichst allen Menschen zu gleichen Teilen eröffnete Chance auf Bildung dar. Dabei wird dann von der Chancengleichheit oder auch Chancengerechtigkeit gesprochen. Frühestens seit der von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron im Jahr 1964 zuerst in französischer Sprache veröffentlichten Schrift mit dem Titel: Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs (dt. 1971) ist empirisch wieder und wieder belegt worden, dass die mit der Schule verbundene Chancengleichheit überhaupt nicht wirkt, sondern die soziale Ungleichheit sich reproduziert. Die Schule wirkt wie eine Art ideologischer Spiegel von etwas – der möglichen sozialen Gleichheit eben –, das in Wirklichkeit gar nicht und auch von der Schule selber nicht erreicht sein will und dementsprechend auch nicht erreicht wird. Die mit der Schule verknüpfte Chancengleichheit ist wesentlich Ideologie, soll verschleiern, dass vermittels der Schule die soziale Ungleichheit zwischen den Menschen nicht gemindert, sondern reproduziert, wenn nicht gar verstärkt werden soll. Durch die Vermittlung des Elternhauses respektive die Vermittlung der Interessen des Kapitals ist die Chancengleichheit in der Wirklichkeit als Ideologie entlarvt, noch ehe die Kinder in die Schule gehen. Wie die Soziologen Martin Graf und Markus Lamprecht bereits in einer frühen Arbeit der 1980er Jahre aufzeigten, ist das Klassenbild der ersten Klasse, wo alle Kinder vor den gleichen Pulten, mit dem gleichen Schulmaterial usw. dasitzen und dadurch einen für alle scheinbar gleichen Null- oder Startpunkt markieren, ideologische Staffage. Es sind freilich nicht nur von aussen wirkende Kräfte, sondern es ist genauso das – mit jenen Kräften beständig vermittelte – in der Schule zu Lernende selber, das das schulische Bemühen um soziale Gleichheit unterläuft. Dieses zu Lernende für sich ist geprägt vom Prinzip besinnungsloser Naturbeherrschung und eskamotiert dadurch von selber den Anspruch der Schule wider die soziale Ungleichheit. Es wären zwei Bildungsbegriffe einander gegenüber zu stellen:
Nur der zweite Begriff käme – so der hier formulierte Gedanke – gegen die soziale Ungleichheit an. Der erste Begriff befördert sie. Der Gedanke wäre auszuführen am schwierigen, für Bildung jeglicher Art zentralen Begriff der Abstraktion. Mittels Abstraktion lassen sich an Sachen bestimmte Momente hervorheben. Die Abstraktion kann – wie bereits beim Zusammenzählen von Sachen – so weit gehen, dass die Sachen – zum Beispiel Äpfel – nur noch als eine Zahl (4 oder 10 Äpfel usw.) respektive als ein Gewicht (1 Kilo oder 2 Kilo Äpfel usw.) erscheinen. Die Problematik dabei kann dann sein, dass man alle Sachen nur noch durch die Zahlenbrille respektive durch die Brille des damit zu machenden Gewinns sieht, ohne noch ein Sensorium dafür aufzubringen, dass die unter den Zahlen subsummierten Sachen je für sich eine Individualität besitzen, sie als solche unvergleichlich sind. Die durch Abstraktion bewirkte Blindheit gegenüber der Individualität von Sachen kann genauso gegenüber der Individualität von Menschen zur Anwendung kommen, hier dann eben die soziale Ungleichheit oder dann gar auch einen Völkermord scheingebildet stützen. Die Schuld für simpel-projektive und in der Folge unmenschliche Anwendungen von Abstraktion – der digitalen Einteilung in Nullen und Einsen – ist allerdings nicht in der Abstraktion selber – auch nicht im Digitalen selber –, sondern in deren Verabsolutierung zu suchen. In der Verabsolutierung der Abstraktion oder des Digitalen selber besteht das Boshafte. Es wäre ein fataler Irrtum, aufgrund des geschilderten Problems – konkretistisch – auf Abstraktion zu verzichten. Abgesehen davon, dass den Menschen der Verzicht auf Abstraktion gar nicht möglich ist, sie sie auch im Guten benötigen, besteht das Problem nun eben gar nicht im Abstraktionsschritt selber, sondern in der Verabsolutierung dieses Schritts. Und diese Verabsolutierung auch genau ist das Grundproblem einer Bildung, die auf besinnungsloser Naturbeherrschung beruht oder auf diese hinaus will. In ihr will der Abstraktionsschritt verabsolutiert sein, um die Natur möglichst besinnungslos, und das heisst immer auch: möglichst effizient gewinnmaximierend zu beherrschen. Das führt zwangsläufig zu sozialer Ungleichheit und noch Schlimmerem. Mittels Abstraktion nämlich kann ...
Zwar wird das Individuelle, Besondere, Unvergleichliche an den Sachen in der Abstraktion zunächst tatsächlich wie übergangen – und in besinnungsloser Naturbeherrschung wird dieses Übergehen auch genau verabsolutiert –, doch dürfte man dabei genau nicht stehen bleiben und braucht man dabei auch nicht stehen zu bleiben. Dasjenige nämlich, was im Abstraktionsschritt übergangen wird und zunächst als Verlorenes erscheint, kann dank virtueller Negierung der Abstraktion auch erst richtig ins Bewusstsein gelangen, einem einfallen. Möglicherweise setzt die Bewusstwerdung und Bewusstmachung des Individuellen, Besonderen, Unvergleichlichen an den Sachen und an den Menschen deren Abstraktion tatsächlich voraus, gelingt aber eben nur dann, wenn auf die Abstraktion kritisch reflektiert und in kritischer Reflexion oder eben virtueller Negierung der Abstraktion das durch sie Übergangene gerettet wird. Ohne es hier ausführen zu können, scheint Walter Benjamin (1892-1940) sehr viel davon gewusst und auch bekundet zu haben. In Selbstkritik der unverzichtbaren Abstraktion – in Selbstkritik der Vernunft als notwendiges Moment der Vernunft selber – lässt sich das Individuelle, Besondere, Unvergleichliche an den Sachen und an den Menschen überhaupt erst – so wird hier also angenommen – richtig einsehen. Damit dann wären wir bei einer Bildung, welche Naturbeherrschung genau nicht besinnungslos, sondern mittels kritischer Selbstbesinnung betreibt. Warum kann in der Schule, wenn die Kinder mühsam die Äpfel zählen lernen: 1 + 1 + 1 + 1 = 4, nicht zugleich gelernt werden – was den Kindern normalerweise eben abgewöhnt wird –, dass jeder der gezählten Äpfel, entgegen ihrer Gleichsetzung mit einer 1 und der faulen Äpfel mit einer 0 seine eigene besondere Qualität besitzt? Das können die Kinder beispielsweise dann bemerken, wenn sie die vier Äpfel so abmalen sollen, dass man auch auf dem Bild wiedererkennt, welcher welcher ist. Die mit dem entsprechenden Ausdruck zutreffend gar nicht richtig bezeichnete abstrakte Kunst – etwa diejenige eines Pablo Picasso – scheint als ein wesentliches Merkmal die Rettung des Besonderen oder auch besonderen Figürlichen tatsächlich zu besitzen. Es handelt sich um ein besonderes Figürliches, das im Kunstwerk dann unter Umständen gar nicht mehr zu sehen ist, aber als ein explizit dargestelltes Vermisstes in Erscheinung treten und sich so erst richtig zu zeigen vermag. Oder dann wird vom besonderen Figürlichen in einer Weise abstrahiert, dass es als solches erst richtig auf- oder einfällt. Und würde die Abstraktion in Kritik besinnungsloser Naturbeherrschung auch in der Schule schon in diesem Sinne gelehrt und gelernt, dann würde damit automatisch auch eine Empathie mit dem Abseitigen, Individuellen, Besonderen einhergehen, beispielsweise auch mit den mit dem vermeintlich Klaren, Richtigen, Normalen nicht mitgehenden Schülerinnen und Schülern. Dadurch würde es schon hier zu einer sozialen Ungleichheit gar nicht kommen können, viel eher zu einer Ungleichheit im Sinne lebendiger Vielfalt, mithin Freiheit.
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