K216 | Zwei Arbeitsformen: Arbeit zum Selbsterhalt / Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit (2. Teil) 20. Juni 2020 |
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... Fortsetzung/Beendigung des letzten Kommentars mit dem 2. Teil Die zwei in diesem Kommentar unterschiedenen Arbeitsformen bedingen sich gegenseitig: Damit die Menschen bei ihrer Arbeit zum Selbsterhalt zu einem Selbst finden, das ein lebendiges und damit wirklich ein solches ist, bedürfen sie zugleich der Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit. Damit die Menschen bei ihrer Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit das (lebendige) Selbst überhaupt erhalten können, bedürfen sie der Arbeit zum Selbsterhalt. Wenn – wie es in unseren Gesellschaften der Fall ist – die Arbeit zum Selbsterhalt die vorherrschende Arbeitsform darstellt und diese Arbeitsform die zweite Arbeitsform, die Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit, an den Rand drängt, dann hat dieses – so die hier formulierte These – die fatale Folge, dass die Arbeit zum Selbsterhalt sich unter der Hand in ihr Gegenteil verkehrt: Je vorherrschender und ausschliesslicher die Arbeit zum Selbsterhalt wird, desto eher wird diese sich – so die These – in ihr Gegenteil, wird die Arbeit zum Selbsterhalt sich in eine solche zur Selbstvernichtung verkehren. Die Verkehrung des Selbsterhalts in Selbstvernichtung war und ist das Grundthema der von Horkheimer und Adorno verfassten Dialektik der Aufklärung, wie wenig explizit sie dort auch – wie im 1. Teil bereits angemerkt – auf die Arbeit bezogen ist. Gemäss Horkheimer und Adorno muss eine Aufklärung, die sich ganz nur auf naturbeherrschenden Selbsterhalt beschränkt, das heisst ohne Besinnung aufs Selbst und dessen Lebendigkeit auszukommen versucht, in Gegenaufklärung umschlagen, womit die Menschheit – wie es in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung wörtlich heisst – ihr Schicksal besiegelt, das heisst dem Untergang geweiht ist. Wie kann es dazu kommen? Lebendigkeit ist den Menschen von Natur – und damit ist wesentlich unbeherrschte Natur gemeint – gegeben. Sie ist losgelöst davon gegeben, ob die Menschen mittels der hier hervorgehobenen zweiten Arbeitsform um ihre Entfaltung sich bemühen oder – wie es leider regelmässig der Fall ist – sich nicht bemühen. Auch wenn die Arbeit zum Selbsterhalt zur gesellschaftlich alles beherrschenden Arbeitsform gemacht und die Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit völlig an den Rand gedrängt ist, wird die unbeherrschte Natur – innere und äussere Natur – immer wieder bei den Menschen sich bemerkbar machen. Wenn die Menschen die Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit, welche ein selbstbesonnenes Verlocken von unbeherrschter Natur meint, demgegenüber nicht leisten wollen oder nicht leisten dürfen, bleibt ihnen als Alternative einzig die Abwehr der sich bemerkbar machenden unbeherrschten Natur. Die entsprechende Abwehr liegt auch ganz im Programm der naturbeherrschenden Arbeit zum Selbsterhalt. Dieses Abwehren-'Müssen' von unbeherrschter Natur betrifft nicht nur die äussere Tier-, Pflanzen- und Sachwelt der (unbeherrschten) Natur, was freilich bereits für sich alleine in Selbstvernichtung umschlagen kann und auch umschlägt, denkt man nur an die durch naturbeherrschende Menschenhand bewirkte Klimaerwärmung, welcher jetzt schon auch Menschen zum Opfer fallen. Dieses Abwehren-'Müssen' von unbeherrschter Natur betrifft genauso andere Menschen und Menschengruppen, denen unterstellt wird, die bestehende Herrschaft durch Unbeherrschtheit oder zu grosse Lebendigkeit zu gefährden. Alle diejenigen, die ins Muster des alles zu Beherrschenden nicht passen, werden als Gefahr wahrgenommen, abgewehrt, bekämpft und im Extrem gar vernichtet. Es hat mit dem auf diesen Seiten oft angesprochenen Mechanismus der falschen oder pathischen Projektion zu tun. Damit dann aber verkehrt sich die alles beherrschen sollende Arbeit zum Selbsterhalt in Arbeit zur Selbstvernichtung, wobei mit Selbstvernichtung hier die Vernichtung des Selbst von anderen gemeint ist. Sowohl im Nationalsozialismus als auch im Stalinismus wurde vorexerziert, was es bedeutet. Und es kam vorher und nachher ja zu vielen weiteren Genoziden. Die die Arbeit zum Selbsterhalt zum Ganzen erklärenden Menschen trauen unbewusst auch dem eigenen Selbst nicht über den Weg. Das Selbst ist ebenfalls ja – wie uneingestanden immer – unbeherrschte Natur. (Adorno formulierte in den Minima Moralia übertrieben: Ich ist Es.) Deshalb sehen sie sich – unbewusst – auch dazu gezwungen, sogar das eigene Selbst, die innere Natur oder das von Freud so bezeichnete Es abzuwehren, zu bekämpfen, allenfalls gar zu vernichten, das heisst Selbstmord zu begehen, dabei aber die (lebendigen) anderen mit sich in den Abgrund reissend. Es darf in der Perspektive der total dem Selbsterhalt Verhafteten nichts unbeherrscht Lebendiges mehr in der Welt sein, auch im eigenen Selbst drin nicht. Und deshalb wird die Arbeit zum Selbsterhalt dann, wenn sie sich zum einzigen Ganzen erklärt, auch mit Bezug auf das eigene Selbst sich in Arbeit zur Selbstvernichtung verkehren. Nicht zufällig hegen die dieser Verhaftung am Nächsten stehenden Rechtsradikalen Weltuntergangsphantasien und rechnen in diese Phantasien den eigenen, dann als heroisch vorgestellten Untergang, eben die Selbstvernichtung, mit ein (vgl. dazu auch die Kommentare K203 und K204 zu dem von Adorno 1967 gehaltenen Vortrag zu Aspekten des neuen Rechtsradikalismus). Die bestehende Arbeitsgesellschaft ist gekennzeichnet von einer Unbewusstmachung dessen, was ihr ermangelt, der Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit. Wenn die Menschen diesen Mangel sich nicht bewusst machen können, können sie sich auch nicht bewusst machen, woran es liegt, dass Rechtsradikalismus, Fremdenhass, Rassismus, Armenverfolgung usw. immer aufs Neue derart sich ausbreiten. Ohne es zu bemerken, befördern sie den beschriebenen Prozess der Verkehrung von Selbsterhalt in Selbstvernichtung mit ihrer – als Defizit gar nicht eingesehenen – Verdrängung der Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit. Sie waschen ihre dann gar umso mehr als selbsterhaltend-fleissig gepriesenen Hände in einfältiger Unschuld. Und wettern gleichwohl – auch wenn sie im Gegensatz zu den anderen das vermeintliche Glück einer selbsterhaltenden Stelle besitzen – gegen jene, die angeblich nichts tun. Dass es neben der Arbeit zum Selbsterhalt noch eine ganz andere, ebenso bedeutsame Arbeit gibt, sehen sie nicht und wollen sie auch nicht sehen. Dieses nun eben hat verheerende Folgen, und zwar eben auch für sie selbst. Wenn bereits in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts von vielen Pflegefachleuten der Pflegenotstand ausgerufen wurde, dann hatte das weniger – wie es heute in der Politik falsch verhandelt wird – mit den niedrigen Löhnen als vielmehr damit zu tun, dass in der Pflege neben der unmittelbaren medizinischen Betreuung zu wenig oder gar keine Zeit für den aussermedizinischen Sozialbezug zu den betreuten Menschen verbleibt. Die Arbeit ist derart zeitlich getaktet bzw. jede pflegerische Handlung derart zeitlich vorabgemessen (was von den Arbeitenden dann gar noch in Formularen peinlich genau festgehalten werden muss) sowie die Gesamtzahl des Pflegepersonals derart auf diese Taktung – die das Gegenteil von sozialem Takt ist – abgestimmt, dass die einzelne Pflegefachperson sich gezwungen sieht, nahezu wie ein Roboter zu arbeiten. Für aussermedizinische Gespräche mit den zu Pflegenden bleibt keine Zeit, darf gemäss Pflichtenheft auch keine Zeit genommen werden. Bekanntermassen verlassen sehr viele Pflegefachleute – man spricht von der Hälfte aller – den Beruf rasch wieder, kaum haben sie ihn angetreten. Gemäss der hier getroffenen Unterscheidung wäre zu sagen, dass der Pflegenotstand darin besteht, dass die Pflegefachleute praktisch nur noch Arbeit zum Selbsterhalt (mit Selbsterhalt ist hier wesentlich der Erhalt oder das Überleben des Selbst der Betreuten gemeint), nicht jedoch Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit (auch hier ist wesentlich die Lebendigkeit der betreuten Menschen gemeint) leisten dürfen. Als die Menschen zu Beginn der Corona-Pandemie dem Pflegepersonal von Fenstern und Balkonen aus applaudierten, dann ging es dabei leider nur um die Frage des Selbsterhalts der hospitalisierten am Virus Erkrankten und der diesbezüglichen Arbeit des Pflegepersonals. Selbstredend war und ist diese Arbeit bedeutsam, doch ging und geht es beim Pflegenotstand wesentlich nicht um die Vernachlässigung der Arbeit zum Selbsterhalt, sondern um die andere, im Allgemeinen eben weggedrückte Arbeitsform, die Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit. Diesbezüglich hatte die Corona-Pandemie einen eher vernebelnden Effekt. In den Pflegeheimen dagegen wurde im Zuge der Pandemie deutlich, wie schnell die Bewohnerinnen und Bewohner an Lebendigkeit verlieren, wenn sie von ihren Angehörigen nicht mehr besucht werden dürfen (ein Besuch von Angehörigen kann für sich ja Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit sein). Auch hier schien das Pflegepersonal die Zeit nicht zu haben respektive zugestanden zu bekommen, diese soziale Arbeit in Ersetzung der mit Besuchsverbot belegten Angehörigen zu leisten. Also verbrachten die pflegebedürftigen oder auch nur betagten Menschen Stunden und Tage und Wochen ganz alleine 'sicher' im Zimmer. Diejenigen Menschen, die mehr oder weniger bewusst aus Gründen der ihnen verwehrten Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit ihre Arbeitsstelle verlassen oder verlieren, haben es rasch sehr schwer, weil Arbeitsstellen, auf denen diese zweite Arbeitsform zusätzlich erwartet wird, Mangelware sind. Wirtschaft und Gesellschaft – im Gleichen neoliberal, neosozialdemokratisch und neokonservativ – sind nicht bereit, Arbeiten in Entfaltung von Lebendigkeit zu finanzieren, weil sich an diesen Arbeiten nichts zusätzlich verdienen lässt. Darin und nicht darin, dass deren angebliche Systemrelevanz nicht anerkannt würde, liegt das Grundproblem der Care Arbeit. Mit – zugespitzt gesagt – dahinvegetierenden betagten Menschen, die nur mit dem Notwendigen für den Lebenserhalt versorgt werden, lässt sich mehr verdienen als mit lebendigen betagten Menschen, die dann eben auch noch sozial lebendige Ansprüche stellen. Wie Eingangs gesagt bedingen sich Arbeit zum Selbsterhalt und Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit gegenseitig. Damit ist auch gesagt, dass dann, wenn neben der Arbeit zum Selbsterhalt der Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit ihren gebührenden Platz eingeräumt würde, Menschen einerseits viel weniger häufig erkranken würden, sie andererseits dann, wenn sie erkranken, mit der Erkrankung viel besser umgehen könnten. Die Gesamtrechnung sähe sogar noch besser aus, bloss – und darin besteht der entscheidende Haken – die alleine über die Arbeit zum Selbsterhalt sich reproduzierende Herrschaft geriete in Gefahr. Wenn sich Menschen wie die angesprochenen Pflegefachleute unter den vorherrschenden Bedingungen zu sehr auch um Arbeit in Entfaltung von Lebendigkeit bemühen – was herrschaftlich gesehen eben genau nicht erwünscht ist –, drohen sie rasch arbeitslos und gar langzeitarbeitslos zu werden. Dann freilich tritt die so genannte Soziale Arbeit mit Programmen zur Arbeitsintegration, Weiterbildung usw. usf. auf den Plan, vorgeblich immer nur 'zu Gunsten' der Betroffenen, was – wie dann unterstellt wird – sogar dann noch zutreffe, wenn die Betroffenen gegen die verordneten Programme Widerstand leisten. Die Soziale Arbeit nämlich hat immer Recht, muss ihr Recht ganz einfach nur immer gut begründen; und was eine gute Begründung ist, weiss sie – natürlich – in jedem Fall besser als die Betroffenen. Und natürlich weiss sie auch ganz genau, was Arbeit ist: Arbeit zum Selbsterhalt eben, rein zufällig genauso, wie die vorherrschende Arbeitsgesellschaft sie will ... Na wunderbar!
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