K101 Der Arbeitsbegriff bei Karl Marx
Ein kritischer Einwand

20. September 2014

Bei Karl Marx findet sich die folgende Bestimmung des Arbeitsbegriffs:

"Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er auf diese Bewegung auf die Natur ausser ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmässigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmässigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eignen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschliesslich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiss, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Ausser der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmässige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äussert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und umso mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreisst, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen Kräfte geniesst." (Karl Marx (1867) in "Das Kapital", Erster Band: S. 192f.; genauer Nachweis siehe im Kasten nachstehend)

Zu diesen Sätzen wie zum nahezu ganzen Kapitel über den "Arbeitsprozess", in welchem das Zitierte sich befindet, ist hervorzuheben, dass Marx damit erst versucht, den Arbeitsprozess oder die menschliche Arbeit in "ihren einfachen und abstrakten Momenten" darzustellen (siehe nachstehendes Zitat), er dabei explizit noch nicht spezifisch von der Arbeit im Kapitalismus spricht. Das macht Marx selber kurz vor jener Stelle deutlich, an der er dann wirklich die "Kontrolle des Kapitalisten" (Marx, ebda, S. 199) einführt. Dort heisst es:

"Der Arbeitsprozess, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmässige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam. Wir hatten daher nicht nötig, den Arbeiter im Verhältnis zu andern Arbeitern darzustellen. Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite genügten. So wenig man dem Weizen anschmeckt, wer ihn gebaut hat, so wenig sieht man diesem Prozess an, unter welchen Bedingungen er vorgeht, ob unter der brutalen Peitsche des Sklavenaufsehers oder unter dem ängstlichen Auge des Kapitalisten, ob Cincinnatus ihn verrichtet in der Bestellung seiner jugera oder der Wilde, der mit einem Stein eine Bestie erlegt." (Marx (1867), ebda, S. 198f.)

Marx geht davon aus, dass es sich bei dieser in ihren "einfachen und abstrakten Momenten" beschriebenen Arbeit um eine "ewige Naturbestimmung des menschlichen Lebens", die "daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens" sei, handle. Zwar werde die Arbeit mit wechselnden gesellschaftlichem Verhältnissen unterschiedlich gleichsam verkompliziert und konkretisiert, doch müssten die Menschen sie grundsätzlich immer leisten, müssten die Menschen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse "zunächst" immer in einen "Stoffwechsel mit der Natur", d.h. in einen Arbeitsprozess eintreten.

In dieser Bestimmung ist ein von Marx zwar angesprochenes, aber als solches nicht wirklich expliziertes Problem enthalten. Gemeint ist das Problem der Naturbeherrschung, von dem hier angenommen wird, dass es bereits in der von Marx gegebenen einfachen und abstrakten Bestimmung der Arbeit als ein Problem drinsteckt. Implizit wird es von Marx im Zitierten mehrfach angesprochen, nämlich, dass die Menschen "dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht" gegenüber treten (siehe erstes Zitat), dass sie eine "Formveränderung des Natürlichen" bewirken (erstes Zitat), es durch die Arbeit zu einer "Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse" kommt (zweites Zitat), sowie gleichzeitig, dass die Menschen von dem im Arbeitsprozess angestrebten Zweck selber in ihrem "Tun" "als Gesetz bestimmt" werden, das heisst "ihren Willen (dem Zweck) unterordnen müssen" (erstes Zitat), und dass der "zweckmässige Wille" vom Arbeitenden "für die ganze Dauer der Arbeit (Aufmerksamkeit) erheischt", also der andauernden Kontrolle bedarf.

Wenn die Menschen mit ihrer Arbeit das Natürliche sich aneignen, um ihre Bedürfnisse zu decken, dann bedeutet das - und das ist in dem von Marx Vorgetragenen durchaus enthalten -, dass eben diese Menschen die Natur beherrschen. Indem die Menschen selber aber gleichzeitig auch Natur sind - darauf, dass dem so ist, wird von Marx ebenfalls hingewiesen -, muss es dazu kommen, dass sie ihre Bedürfnisse, zu deren Befriedigung sie die Natur eigentlich zu beherrschen versuchen, selber unterdrücken müssen, ansonsten sie die Naturbeherrschung nicht ins Werk setzen könnten. Sie müssen sich dazu selber disziplinieren und kontrollieren. Das Natur beherrschende Arbeiten fordert es ein. Dieses nun wird von Marx so nicht gesagt, er weist aber immerhin in diese Richtung mit dem zitierten Hinweis darauf, dass die Menschen ihren Willen dem im Arbeitsprozess angestrebten Zweck unterordnen müssen. Allerdings schliesst er daraus nicht - wie es hier geschehen soll - auf eine grundlegende Antinomie, eben darin bestehend, dass die zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung vermittels Arbeit betriebene Naturbeherrschung die Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung genau wieder unterdrückt. Diese bereits in der einfachen und abstrakten Bestimmung des Begriffs der Arbeit drinsteckende Antinomie, die wohl erst rund siebzig Jahre nach Marx von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als solche erkannt wurde, vermochte Marx noch nicht einzusehen. Marx war allerdings sehr nahe am Problem dran, bereitete die spätere theoretische Durchdringung wesentlich vor, weshalb bei Horkheimer und Adorno nur wenig Kritik an Marx zu finden ist.

Anhand der von Marx acht Jahre nach dem ersten Band des Kapitals verfassten "Kritik des Gothaer Programms" (1875) der deutschen Arbeiterpartei kann der Arbeitsbegriff noch genauer gefasst werden. Zu Beginn seiner Kritik kritisiert Marx einen Satzteil aus dem Gothaer Programm, der da lautet: "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur" (von Marx aus dem Gothaer Programm zitiert unmittelbar vor der nachstehend zitierten Stelle) mit den folgenden Worten:

"Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äusserung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, dass die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben. Nur soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände, verhält, sie als ihm zugehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, dass der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der anderen Menschen sein muss, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben." (Karl Marx (1875) in "Kritik des Gothaer Programms": S. 15; genauer Nachweis im Kasten nachstehend)

Marx weist darauf hin, dass die Quelle der Gebrauchswerte nicht nur die Arbeitskraft, sondern ebensosehr die Natur sei. Die Menschen könnten überhaupt nur Gebrauchswerte produzieren und also überleben, wenn sie sich "von vornherein als Eigentümer zur Natur (verhielten)". Diese "Naturbedingtheit der Arbeit" dürfe nicht - wozu das Gothaer Programm wie die Bürgerlichen tendierten - ignoriert werden. Sie genau sei es nämlich, welche die Arbeitskraft erst zu einem Eigentum mache - ohne zu bearbeitende Natur ist die Arbeitskraft in der Tat nichts -, womit auch überhaupt erklärt werden könne, weshalb sie, die Arbeitskraft, derart begehrt sei, weshalb "in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen" die einen Menschen zu "Sklaven der andern Menschen" gemacht würden. Die einen Menschen erklärten sich zu Eigentümern der Arbeitskraft anderer Menschen, also zu Eigentümern des Eigentums anderer. Um dieses zu vertuschen, werde die Naturbedingtheit der Arbeit zumeist verleugnet respektive werde - wie es im Zitierten heisst - "der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft (angedichtet)".

Der hier nun aber gleichwohl gegen den Marxischen Arbeitsbegriff vorzubringende Einwand lautet, dass auch dann, wenn der Eigentümer der Arbeitskraft ganz sein eigener Eigentümer wäre und also frei über sie verfügen respektive frei sie einsetzen könnte, dass er auch dann noch sich als "Eigentümer zur Natur verhält". Auch dann noch müsste er, und zwar auch im Arbeitsbegriff von Marx, die Natur beherrschen, und bei Marx geht es in der Tat immer sowohl um die Befreiung der Produktivkräfte als auch um die Steigerung der Produktivkräfte zum Wohlstand aller. Wenn der Arbeitsbegriff dieses Eigentümerhafte zur Natur respektive Naturbeherrschende immer enthält, und zwar eben bereits in seiner einfachen und abstrakten Bestimmung, dann muss darin das hier im Anschluss an Horkheimer und Adorno als zwangsläufige Folge Hervorgehobene, nämlich, dass die Menschen, da wesentlich selber Natur, auch sich selber und sich gegenseitig beherrschen müssen, auch enthalten sein. Noch gar das befreite Eigentum an der Natur, mithin der befreite Arbeiter fordert Beherrschung, auch Selbstbeherrschung und Beherrschung von Menschen über Menschen. (Anmerkung: Es ist zu vermuten, dass Marx mit Hegel den Irrtum teilt, der freie Eigentümer respektive der Herr sei gegenüber dem Knecht wirklich frei. Mit ihrer Odysseus-Deutung (Durchfahrt bei den Sirenen) in der "Dialektik der Aufklärung" weisen Horkheimer und Adorno implizit darauf hin; auch Odysseus, der erste Bürger, ist nicht frei.)

Die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno skizzierte Alternative zur Naturbeherrschung, die Versöhnung der Menschen mit der Natur, vermochte der im Zeitalter der grossen Industrialisierung lebende Karl Marx noch nicht wirklich einzusehen. Hätte er sie eingesehen, hätte dieses seinen Arbeitsbegriff mit Sicherheit erheblich verändert. Arbeit nämlich bräuchte nicht allein zum Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geleistet zu werden (wobei - wie angemerkt - der Zweck allein sich gar nicht erfüllen lässt, da die naturbeherrschende Arbeit auch die Menschen selber als Natur unterdrückt und ihnen die angestrebte Befriedigung genau verwehrt), sondern könnte stattdessen vielmehr zum Zweck der Versöhnung mit der Natur geleistet werden (wobei Versöhnung mit der Natur dadurch, dass die Menschen selber wesentlich auch Natur sind, immer auch Versöhnung der Menschen mit sich selber meinen würde). Der Arbeitsbegriff bekäme so eine ganz andere Dynamik, und es wäre im Übrigen historisch neu zu prüfen, inwiefern entsprechende Versöhnungsversuche schon unternommen, von der üblichen, eben naturbeherrschenden Arbeit jedoch unterdrückt wurden. In der Folge wäre auch gar nicht mehr so klar, was unter jenem von Marx als Arbeit bezeichneten "Stoffwechsel mit der Natur" zu verstehen wäre. Vielleicht könnten die Menschen dank ihren Denkfähigkeiten der Natur genau mehr geben als diese ihnen zu geben vermag, dadurch dann aber ihrerseits mehr zurückerhalten, was meint: zur Bedürfnisbefriedigung wirklich gelangen ...