K105 Der völkische oder religiöse bzw. ersatzreligiöse Antisemitismus
Aus den "Elementen des Antisemitismus" von Horkheimer und Adorno (2)

15. November 2014

Dieser Kommentar schliesst thematisch an den Kommentar K103 an.

Im Abschnitt IV der "Elemente des Antisemitismus" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Nachweis siehe Kasten) findet sich eine Überlegung zu einem Motiv des Antisemitismus, das vermutlich auch beim heute aktuellen "radikalen Islamismus" oder "Jihadismus" von grosser Bedeutung ist. Es ist das völkische oder auch religiöse bzw. ersatzreligiöse Motiv des Antisemitismus.

Horkheimer und Adorno weisen für das Christentum im Vergleich zum älteren Judentum auf ein Moment des Fortschritts hin, das sie - ihrem Grundtheorem der Dialektik der Aufklärung entsprechend - als zugleich verhängnisvolles identifizieren. Sie leiten diesen Hinweis ein mit den Worten: Das Christentum ist nicht bloss ein Rückfall hinter das Judentum (Horkheimer/Adorno 1944: 185), um eine Erklärung des christlichen Antisemitismus mit Bezug auf die entscheidenden Unterschiede zwischen Judentum und Christentum folgen zu lassen.

(Der Gott des Judentums) hat beim Übergang von der henotheistischen (Hingabe an nur einen Gott, ohne die Existenz anderer Götter zu leugnen, kw) in die universale Gestalt die Züge des Naturdämons noch nicht völlig abgeworfen. Der Schrecken, der aus präanimistischer Vorzeit stammt, geht aus der Natur in den Begriff des absoluten Selbst über, das als ihr Schöpfer und Beherrscher die Natur vollends unterwirft. In all seiner unbeschreiblichen Macht und Herrlichkeit, die ihm solche Entfremdung verleiht, ist er doch dem Gedanken erreichbar, der eben durch die Beziehung auf ein Höchstes, Transzendentes universal wird. Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen, das nicht nur für ihren blinden Kreislauf einsteht wie alle mythischen Götter, sondern aus ihm befreien kann. Aber in seiner Abstraktheit und Ferne hat sich zugleich der Schrecken des Inkommensurablen (mit Gott, kw) verstärkt, und das eherne Wort Ich bin, das nichts neben sich duldet, überbietet an unausweichlicher Gewalt den blinderen, aber dadurch auch vieldeutigeren Spruch des anonymen Schicksals. Der Gott des Judentums fordert, was ihm gebührt, und rechnet mit dem Säumigen ab. Er verstrickt sein Geschöpf ins Gewebe von Schuld und Verdienst. (Horkheimer/Adorno 1944: 185f.)

Demgegenüber hat das Christentum das Moment der Gnade hervorgehoben, das freilich im Judentum selber im Bund Gottes mit den Menschen und in der messianischen Verheissung enthalten ist. Es hat den Schrecken des Absoluten gemildert, indem die Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet: der göttliche Mittler wird mit einem menschlichen Namen gerufen und stirbt einen menschlichen Tod. Seine Botschaft ist: Fürchtet Euch nicht; das Gesetz zergeht vor dem Glauben; grösser als alle Majestät wird die Liebe, das einzige Gebot. - Aber kraft der gleichen Momente, durch welche das Christentum den Bann der Naturreligion fortnimmt, bringt es die Idolatrie (den Götzendienst, kw), als vergeistigte, nochmals hervor. Um soviel wie das Absolute dem Endlichen genähert wird, wird das Endliche verabsolutiert. Christus, der fleischgewordene Geist, ist der vergottete Magier. Die menschliche Selbstreflexion im Absoluten, die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist das proton pseudos (gleichsam die erste falsche Prämisse, kw). Der Fortschritt über das Judentum ist mit der Behauptung erkauft, der Mensch Jesus sei Gott gewesen. Gerade das reflexive Moment des Christentums, die Vergeistigung der Magie ist schuld am Unheil. Es wird eben das als geistigen Wesens ausgegeben, was vor dem Geist als natürlichen Wesens sich erweist. Genau in der Entfaltung des Widerspruchs gegen solche Prätention von Endlichem besteht der Geist. So muss das schlechte Gewissen den Propheten als Symbol empfehlen, die magische Praxis als Wandlung. Das macht das Christentum zur Religion, in gewissem Sinn zur einzigen: zur gedanklichen Bindung ans gedanklich Suspekte, zum kulturellen Sonderbereich. (Horkheimer/Adorno 1944: 186)

Die Krux des Christentums würde demnach darin bestehen, dass mit ihm der Glauben als menschliche Selbstreflexion im Absoluten - durch die menschliche Gestalt von Jesus - als eine Religion, überhaupt erst als Religion durchgesetzt wurde: Das Christentum als erste Religion, als erster kultureller, Heilsgewissheit garantierender Sonderbereich im Endlichen. Der Sonderbereich soll es den Menschen ermöglichen, Jesus, dem vergotteten Magier, nachzufolgen, damit dann das Problem der Selbsterhaltung zu überwinden. Mit der Etablierung eines die Heilsgewissheit garantierenden Sonderbereichs im Endlichen wird eben dieses Endliche ebenso verabsolutiert wie auch als der Ort, worin Selbsterhaltung im wörtlichen Sinn endlich ist, entwertet: Die Überwindung der Selbsterhaltung durch die Nachahmung Christi wird verordnet. So wird die aufopfernde Liebe der Naivität entkleidet, von der natürlichen getrennt und als Verdienst verbucht. (Horkheimer/Adorno 1944: 187) Als Sonderbereich nimmt die Religion zwar den Anspruch des jüdischen Glaubens zurück, das endliche Daseins und überhaupt die Natur mit den von Gott kommenden Gesetzen zu konfrontieren, doch wird sie dadurch nicht etwa, wie es auf den ersten Blick erscheint, harmloser, sondern im Gegenteil willfähriger jeder Herrschaft gegenüber. Sie erst ermöglicht den fanatischen Glauben, das Heil oder eben die Überwindung des Problems der Selbsterhaltung lasse sich lösen durch die liebende Aufopferung bis in den Tod, der dann eben gar keiner sei, zugunsten dieser oder jener Herrschaft, zugunsten dieses oder jenes Tickets: ... das moasische Gesetz wird abgeschafft, aber dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben. Die weltliche Obrigkeit wird bestätigt oder usurpiert, das Christliche als das konzessionierte Heilsressort betrieben. (Horkheimer/Adorno 1944: 187)

Mit der christlichen Religion wird der Glaube genährt, die aufopfernde Liebe garantiere verbindlich das absolute Heil: Die Unverbindlichkeit des geistlichen Heilsversprechens, dieses jüdische und negative Moment in der christlichen Doktrin, durch das Magie und schliesslich noch die Kirche relativiert ist, wird vom naiven Gläubigen im stillen fortgewiesen, ihm wird das Christentum, der Supranaturalismus, zum magischen Ritual, zur Naturreligion. Er glaubt nur, indem er seinen Glauben vergisst. Er redet sich Wissen und Gewissheit ein wie Astrologen oder Spiritisten. (Horkheimer/Adorno 1944: 185f.)

Der Fortschritt des Christentums gegenüber dem Judentum, sich ganz über die Naturreligion erhoben und insofern aufgeklärt zu haben, wird bezahlt durch den Rückfall in vergeistigte Magie, im Grunde umso tiefere Naturreligion.

Der zur Religion gewordene Glaube an den sicheren Weg zum ewigen Heil ist, sofern man mit Religion doch noch Glauben im Sinne von Glauben mit Bezug auf etwas Ungesichertes, nicht zu Garantierendes verbindet, bereits nicht mehr Religion, sondern Religionsersatz, also bereits das, was die Astrologen oder die Spiritisten betreiben. Es ist einfältig.

Der Einfalt aber wird die Religion selbst zum Religionsersatz. Die Ahnung davon war dem Christentum seit seinen ersten Tagen beigesellt, aber nur die paradoxen Christen, die antioffiziellen, von Pascal über Lessing und Kierkegaard bis Barth machten sie zum Angelpunkt ihrer Theologie. In solchem Bewusstsein waren sie nicht bloss die Radikalen sondern auch die Duldsamen. Die anderen aber, die es verdrängten und mit schlechtem Gewissen das Christentum als sicheren Besitz sich einredeten, mussten sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten. Das ist der religöse Ursprung des Antisemitismus. Die Anhänger der Vaterreligion (Judentum, kw) werden von denen des Sohnes (Christentum, kw) gehasst als die, welche es besser wissen. Es ist die Feindschaft des sich als Heil verhärtenden Geistes gegen den Geist. Das Ärgernis für die christlichen Judenfeinde ist die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisieren und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf und Heilsordnung festhält, die sie angeblich bewirken sollen. Der Antisemitismus soll bestätigen, dass das Ritual von Glaube und Geschichte recht hat, indem er es an jenen vollstreckt, die solches Recht verneinen. (Horkheimer/Adorno 1944: 188)

Es ist zu vermuten, dass auch der aktuelle "radikale Islamismus" oder "Jihadismus" vom hier mit Horkheimer und Adorno beschriebenen völkischen oder religiösen bzw. ersatzreligiösen Motiv des Antisemitismus beherrscht ist. Die "Jihadisten" verfolgen die Gläubigen als die Ungläubigen, weil sie ihren heilsgewissen Unglauben als Glauben durchsetzen wollen müssen.