K110 | Bewusste versus falsche (pathische) Projektion (2. Teil) Aus den "Elementen des Antisemitismus" von Horkheimer und Adorno (3b) 7. Februar 2015 |
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Im 1. Teil dieses zweiteiligen Kommentars wurde darauf eingegangen, was unter bewusster Projektion verstanden wird (Kommentar K109). Im hier vorgelegten 2. Teil wird aufgezeigt, was unter falscher (pathischer) Projektion verstanden wird. Thematisch schliessen die beiden Kommentarteile an die Kommentare K103 und K105 an. Der Abschnitt VI der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vorgelegten "Elemente des Antisemitismus" beginnt mit dem Satz: Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 196; Nachweis vgl. nachstehender gelber Kasten) Im ersten Teil (Kommentar K109) wurde darauf hingewiesen, dass ein Hineinverlegen des Subjektiven in die Sache respektive ein Projizieren zum Denken notwendig dazu gehört, dabei ein Abgrund zwischen wahrhaftem Gegenstand und unbezweifelbarem Sinnesdatum immer überbrückt werden muss, dabei zwangsläufig Willkür im Spiel ist. Die wesentliche Frage dabei lautet, ob das denkende Subjekt auf diesen ihm inhärenten Mangel bewusst reflektiert und dabei erkennt, dass eine Differenz zwischen gedachter Sache und Sache selbst besteht oder ob es das nicht erkennt. Wo es die Differenz nicht erkennt, wo es auf den Mangel des eigenen Gedankens nicht reflektiert, projiziert es nicht bewusst, sondern falsch oder pathisch. |
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Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin. Indem das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt zurückzugeben, was es von ihm empfangen hat, wird es selbst nicht reicher sondern ärmer. Es verliert die Reflexion nach beiden Richtungen: da es nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 199) Sobald das Subjekt durch seinen Gedanken ein bestimmtes Urteil vom Objekt sich gemacht hat, reflektiert es im bewussten Fall auf dieses Urteil derart, dass es dasselbige auf das Objekt zurückspiegelt, dabei dann auf die Differenz zwischen Urteil und Objekt aufmerksam wird, sodann den Gedanken in Negation des Urteils und in Anerkennung der Differenz weiterführt. Das ist gemeint mit der von Hegel so grossartig demonstrierten Arbeit am Begriff oder der Einsicht, dass das Subjekt dem Gedanken und seinem Gang sich überlassen soll (es wird hier abgesehen vom Problem, dass Hegel dann doch glaubte, dass der Geist schliesslich zur absoluten Identität mit der Sache vordringe). Mit Horkheimer und Adorno geht es um folgendes: Das Subjekt nimmt sich in seiner zunächst wie Allmacht erscheinenden Projektionskraft zurück zugunsten des Objekts, damit anerkennend, dass es differiert von ihm, dass dieses selber auch Subjekt ist. Das falsch oder pathisch projizierende Subjekt reflektiert genau nicht auf den Mangel seines Gedankens, sondern erklärt das Urteil, das es aus sich heraus von der Welt sich macht, zu dieser selbst, ohne Einsicht in die bestehende Differenz. Es (das pathisch projizierende Subjekt, kw) schwillt über und verkümmert zugleich. Grenzenlos belehnt es die Aussenwelt mit dem, was in ihm ist; aber womit es sie belehnt, ist das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte blosse Mittel, Beziehungen, Machenschaften, die finstere Praxis ohne den Ausblick des Gedankens. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 199) Dem pathisch projizierenden Subjekt fehlt der Ausblick des Gedankens, der ihn, den Gedanken selber, zu verändern vermöchte. Durch den Ausblick erst entstünde so etwas wie Wahrheit. "Wahr sind sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen." (Theodor W. Adorno) |
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Max Horkheimer / Theodor W. Adorno
Dialektik der Aufklärung Fr.a.M.: S. Fischer (1969) 1986. darin der Abschnitt: Der Abschnitt 'Elemente des Antisemitismus" ist unterteilt in die Abschnitte I bis VII. In der Vorrede zum Buch wird bei diesen Abschnitten auch von Thesen gesprochen, dort nämlich, wo einerseits angemerkt wird, dass Leo Löwenthal an der Niederschrift der ersten drei "Thesen" mitarbeitete, wo andererseits zur Buchausgabe 1947 festgehalten wird, dass einzig die letzte "These" der 'Elemente des Antisemitismus' nachträglich hinzugefügt wurde (vgl. Dialektik der Aufklärung, S. 7). |
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Indem der Paranoiker die Aussenwelt nur perzipiert, wie es seinen blinden Zwecken entspricht, vermag er immer nur sein zur abstrakten Sucht entäussertes Selbst zu wiederholen. Das nackte Schema der Macht als solcher, gleich überwältigend gegen andere wie gegen das eigene mit sich zerfallene Ich, ergreift, was sich ihm bietet, und fügt es, ganz gleichgültig gegen seine Eigenart, in sein mythisches Gewebe ein. Die Geschlossenheit des Immergleichen wird zum Surrogat von Allmacht. Es ist, als hätte die Schlange, die den ersten Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im Paranoiker ihr Versprechen eingelöst. Er schafft alle nach seinem Bilde. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 199f.) Der sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der freie die Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur einseitigen Treue, indem er sie in die fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person weist. Er weckt nicht das Gewissen, sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert. Sie werden verraten: die Frauen weggeworfen, die Nation ausgebrannt. So bleibt der Verschlossene das Spottbild der göttlichen Gewalt. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 200f.) Wenn von pathischer Projektion die Rede ist, wird damit auf etwas Krankhaftes verwiesen. Als solches freilich kann es durchaus zu einem festen Moment der so genannten gesellschaftlichen Normalität werden und ist es wesentlich auch geworden. Es hängt eng zusammen mit dem Instrumentellen an der Vernunft, welches, wird es verabsolutiert, nichts anderes meint als pathische Projektion. Oft wird der gesellschaftliche Fortschritt allein unter dem Aspekt des instrumentellen oder technischen Fortschritts gelesen (vgl. dazu auch Kommentar K108), was dann zu einer pathischen Lesart wird, wenn überhaupt nicht eingesehen wird, dass für einen wirklichen Fortschritt auf den technischen Fortschritt genauso kritisch zu reflektieren wäre, wie der Gedanke auf seinen projektiv-willkürlichen Mangel kritisch zu reflektieren hätte, was übrigens Denken ganz einfach wäre. Wo immer die intellektuellen Energien absichtsvoll aufs Draussen konzentriert sind, also überall, wo es ums Verfolgen, Feststellen, Ergreifen zu tun ist, um jene Funktionen, die aus der primitiven Überwältigung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der Naturbeherrschung sich vergeistigt haben, wird in der Schematisierung leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System (der Naturbeherrschung, kw) als die Sache selbst gesetzt. Das vergegenständlichende Denken enthält wie das kranke die Willkür des der Sache fremden subjektiven Zwecks, es vergisst die Sache und tut ihr eben damit schon die Gewalt an, die ihr später in der Praxis geschieht. Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns, der die Natur entvölkert (diese nur noch ansieht als Mittel, kw) und am Ende die Völker selbst. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 202) Die falsche oder pathische Projektion ist nicht nur dem Antisemitismus, sondern einer Aufklärung insgesamt inhärent, die nicht bereit ist, kritisch auf sich, das heisst die ihr inhärenten Mangel zu reflektieren, sondern den Mangel zum Wahrheitsprinzip erklärt. In dieser Kritik besteht eine der grundlegenden Einsichten der "Dialektik der Aufklärung". Wie noch heute praktisch fruchtbare wissenschaftliche Unternehmungen der unangekränkelten Fähigkeit zur Definition bedürfen, der Fähigkeit, den Gedanken an einer durchs gesellschaftliche Bedürfnis designierten Stelle stillzulegen, ein Feld abzugrenzen, das dann bis ins kleinste durchforscht wird, ohne dass man es transzendierte, so vermag der Paranoiker einen durch sein psychologisches Schicksal designierten Interessenkomplex nicht zu überschreiten. Sein Scharfsinn verzehrt sich in dem von der fixen Idee gezogenen Kreis, wie das Ingenium der Menschheit im Bann der technischen Zivilisation sich selbst liquidiert. Die Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 202f.) Wesentlich am vorherigen Zitat ist der Hinweis darauf, dass der Gedanke an einer durchs gesellschaftliche Bedürfnis designierten Stelle stillgelegt wird, eine Stillegung, die genauso prägend ist für die falsche oder pathische Projektion. Die Stillegung des Gedankens respektive, um das weiter oben Hervorgehobene wieder aufzunehmen, der verhinderte Ausblick oder die verhinderte Fortführung des Gedankens, die Verunmöglichung des Denkens überhaupt, beruht auf gesellschaftlichem Zwang, einem Zwang, der bereits im Tauschprinzip drinsteckt (was hier nicht weiter ausgeführt werden kann). Die Gedanken, würden sie weitergeführt oder vielmehr ganz einfach zugelassen, würden nicht nur die Differenz zur Welt anerkennen, sondern zugleich ihre Mannigfaltigkeit einsichtig und damit auch die Menschen selber reicher machen. Das betrifft die äussere Natur der Menschen und dazu gehörig die anderen Menschen ebenso wie die innere Welt der Menschen. Wird der Gedanke stillgelegt, muss auch das Sensorium für die inneren Regungen stillgelegt, verdrängt werden. Doch - so die Einsicht der Psychoanalyse -, machen diese sich, auch bei scheinbar gelungener Verdrängung, hinterrücks doch immer wieder geltend. Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Aussenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äussere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr. (Horkheimer/Adorno 1944: S. 201) Die tabuierten Regungen haben mit dem stillgestellten Gedanken unmittelbar zu tun. Gesellschaftliche Zwänge verbieten es, mit bestimmten inneren Regungen und Wünschen, wie etwa dem, nicht an Haus und Arbeit gefesselt sein zu müssen, gedanklich sich auseinander zu setzen, was bedeutet, dass sie verdrängt werden müssen. Zur Stützung der Verdrängung des immer wieder sich meldenden Verdrängten muss von den pathisch Projizierenden die Verdrängung auch in der Aussenwelt zwanghaft vollzogen werden, und zwar derart, dass Menschen, die an das Verdrängte gemahnen, wie etwa Fahrende (oder sei es auch die im Film "Easy Rider" von Dennis Hopper dargestellten Motorrad-Fahrenden) zum Bösen hochstilisiert und in der Folge dann ganz praktisch auch verfolgt werden. In unseren Tagen sind die angeblich frei lebenden Sozialleistungsbeziehenden, etwa der Sozialhilfe, der IV, des Asylbereichs solche Zielscheiben pathischer Projektion. Horkheimer und Adorno hätten auch diese Formen noch als antisemitisch bezeichnet. |
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