K123 | "Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung" Adornos Sur l'eau aus den Minima Moralia 17. Oktober 2015 |
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Dieser Kommentar lässt sich anregen von einer Miniatur, die Theodor W. Adorno 1945 für seine Minima Moralia schrieb (Nachweis siehe Kasten): Sur l'eau. |
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Sur l'eau. - Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft erhält man Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens. So illegitim die unvermeintliche Frage, so unvermeidlich das Abstossende, Auftrumpfende der Antwort, welche die Erinnerung an das sozialdemokratische Persönlichkeitsideal vollbärtiger Naturalisten der neunziger Jahre (gemeint sind die 1890er Jahre, kw) aufruft, die sich ausleben wollten. Zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll. (Adorno (1945), S. 206) |
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Theodor W. Adorno
Sur l'eau In: Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1944 - 1947). Fr.a.M.: Suhrkamp 1988: S. 206-208. |
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Tatsächlich vergessen viele, und nicht nur die Sozialdemokraten damals wie heute, vor lauter Sorge um das, was heute als Selbstverwirklichung bezeichnet wird, das Wohl aller. So allgemein grob es nur angegeben werden kann: dass keiner mehr hungern soll, so viel Zartheit würde es ermöglichen im Resultat: Sur l'eau. | |||||
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Es wäre auf einen Zustand hinzuarbeiten, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, und nicht auf ein menschliches Verhalten hin, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. Dabei besteht das von Adorno in seiner Miniatur nicht thematisierte Problem, dass die meisten Menschen eben dieses am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildete Verhalten als ihr Bedürfnis auslegen, während dieses in Wahrheit nicht von ihnen ausgeht, sondern von jener Produktion gemodelt ist, dementsprechend das ihrige eben gar nicht ist. Die Produktion als Selbstzweck schreibt den Menschen vermittels Werbung und soziale Kontrolle vor, was deren Bedürfnisse zu sein haben. Das gilt auch für die von Adorno angeführten ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen, die unbewusst jenes Produktionsmodell aufs Genaueste reproduzieren. Hemmungslos instrumentalisieren sie alles und jenes für sich, ganz dem vorherrschenden Wesen der Produktion gemäss. Dabei würden die Produktionsmittel längst ausreichen, um gesellschaftlich dafür zu sorgen, dass keiner mehr hungern soll. Stattdessen wird die Produktion als Selbstzweck betrieben, welche immer dynamischer, aber eben mit der immer selben Instrumentalisiererei und insofern geschichtslos über die Menschen und deren Bedürfnisse hinweg schreitet. Die Menschen sollen so dynamisch sein wie die sich entwickelnde Produktion und dabei ständig sich einreden, urtümliche Bedürfnisse zu befriedigen: Sport ist gesund ... am besten auf Hawaii und möglichst ausdauernd ... | |||||
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Es sieht so aus, als wäre das gesellschaftlich Eingeforderte, das dynamisch sich wiederholt und wiederholt wie der Mythos, Natur oder gar Allnatur, und als wären die Menschen nichts mehr als ein Stück dieser dann gar eben als gesund vorgestellten Ewigkeit. Es kommen einem die Bilder des kraftstrotzenden Holzhackers in den Sinn, wie sie von naturalistischen Sozialisten ebenso wie von rechtskonservativen Grossindustriellen bewundert werden, und wie sie in der Nazi-Kunst ebenso wie in der Kunst des real existent gewesenen Sozialismus ("Ehre der Arbeit") verwendet wurden. Das Holzbeil lässt sehr leicht sich durch Hammer und Sichel ersetzen. Es ist in der Tat das in Allnatur vermummte Gesellschaftliche, von dem die Menschen sich korrumpieren lassen. Dabei lassen Lohnarbeit und Freizeit ihnen, wie Herbert Marcuse es im "Eindimensionalen Menschen" ausdrückte, gar keine freie Zeit mehr. | |||||
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