K142 Sein oder Nichtsein?
Zu Shakespeares Hamlet

8. Oktober 2016

Der König von Dänemark und Vater von Hamlet wird vom Bruder des Königs durch ins Ohr geträufeltes Gift im Schlaf heimlich ermordet. Der Mörder übernimmt die Krone und heiratet die Königin, die Frau des Ermordeten und Mutter von Hamlet. Der ermordete König erscheint Hamlet um Mitternacht, klärt ihn auf über den Mord und verlangt, dass er ihn räche.

Hamlet zögert.

HAMLET.
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden. Sterben - schlafen -
Nichts weiter! - und zu wissen, dass ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stösse endet,
Die unsers Fleisches Erbteil - 's ist ein Ziel
Aufs innigste zu wünschen. Sterben - schlafen -
Schlafen! Vielleicht auch träumen! - Ja, da liegt's:
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt,
Das zwingt uns stillzustehn. Das ist die Rücksicht,
Die Elend lässt zu hohen Jahren kommen.
Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geissel,
Des Mächt'gen Druck, des Stolzen Misshandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte
Mit einer Nadel bloss? Wer trüge Lasten
Und stöhnt' und schwitzte unter Lebensmüh'?
Nur dass die Furcht nach etwas vor dem Tod -
Das unentdeckte Land, von des Bezirk
Kein Wandrer wiederkehrt - den Willen irrt,
Dass wir die Übel, die wir haben, lieber
Ertragen, als zu unbekannten fliehn.
So macht Gewissen Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschliessung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;
Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen. - Still!
Die reizende Ophelia. - Nymphe, schliess
In dein Gebet all meine Sünden ein.
(Hamlet, 3. Aufzug, 1. Szene)

Hamlet stellt die Frage nach Sein oder Nichtsein nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch und mehr noch auf die Menschen allgemein. Warum sind die Menschen? Warum sind sie bereit, mit ihres Fleisches Erbteil zu leben und das Herzweh und die tausend Stösse, die sie erleiden, hinzunehmen? Warum bereiten sie dem allem nicht einfach ein Ende: Nichtsein? Hamlet macht in seinem Monolog sich klar, dass die Menschen die Übel, die sie haben, lieber ertragen, weil im Nichtsein, im Tod, als Schlafen ausgelegt, Träume kommen können und dass der vorwegnehmende Gedanke an diese Träume die Furcht vor etwas nach dem Tod erweckt, vor jenem unentdeckten Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt. Der Gedanke ans Nichtsein blässt (...) die angeborne Farbe der Entschliessung, lenkt Unternehmungen voll Mark und Nachdruck (...) aus der Bahn, macht die Menschen zu Feigen. Und weil - so Hamlet - wir Menschen uns nicht getrauen, zum Nichtsein als dem Unbekannten zu fliehn, ertragen wir die Übel, die wir haben, lieber, als dass wir bereit sind, durch Widerstand die See von Plagen (...) zu enden. Wir ertragen der Zeiten Spott und Geissel, des Mächt'gen Druck, des Stolzen Misshandlungen, verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub, den Übermut der Ämter und die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist.

Wofür entscheidet Hamlet selber sich, für Sein oder Nichtsein? Allein dadurch, dass er die Frage so stellt, wie er sie stellt, ist er ein vom Sein bereits Abgewandter. Der ihm durch den Geist des Vaters angezeigte Brudermord sowie die Ehe der Mutter mit dem Mörder haben ihn derart erschüttert, dass er - um die geniale Formulierung von Max Frisch mit Bezug auf "Gantenbein" zu zitieren - durch alle gesellschaftlichen Spiegel gefallen ist, er keinen Weg zurück mehr sieht. Hamlet vermag nur noch zuschauen von aussen wie ein ganz fremd Gewordener: Melancholie. Schon wenn er seine Frage stellt, befindet er sich somit im Bereich des gesellschaftlichen Nichtseins. Er fürchtet den Tod nicht (HAMLET. Mein Leben acht ich keine Nadel wert (1. Aufzug, 4. Szene)), sieht aber auch keinen Anlass dazu, selbst sich zu morden.

Hamlet lässt den neuen König, die Königin und dessen Vasallen ihr mörderisches, intrigantes Spiel weiter treiben, schreitet nicht, wie vom Geist des Vaters gefordert, geradewegs zur Rachetat. Einmal hätte er die Gelegenheit, den neuen König zu ermorden, überlegt es sich auch, tut es aber nicht. Doch verwehrt er diesem und den andern jetzt jede Möglichkeit, via ihn sich zu bestätigen, in ihm sich zu spiegeln. Er kommentiert deren Tun wie ein neutraler Seher, lässt so an den Tag treten, wie es in Wirklichkeit ist. Er entlarvt jede ihrer gesellschaftlichen Verstellungen. Sie freilich, die nichts als nur Verstellung kennen, können den Sinn seiner Aussagen nicht fassen, erklären ihn für wahnsinnig. Sie versuchen mit Hinweis darauf, dass er den Verstand verloren habe, ihn zu beseitigen.

Hamlet lässt den Königsmord und den Eheverrat von einer Schauspieltruppe dem ganzen Hof vorspielen.
Hamlet tötet - im blossen Reflex - eine hinter dem Vorhang heimlich lauschende Ratte (es ist der Hofintrigant Polonius).
Hamlet verkehrt durch eine simple Nachschrift das gegen ihn gerichtete Todesurteil zu dem seiner gedungenen Mörder.
Hamlet lässt das gegen ihn mehrfach eingesetzte Gift geradezu "überlaufen", wodurch dieses auch die es Einsetzenden trifft.

Hamlet übt keine Rache, sondern lässt König, Königin und Vasallen nur als das erscheinen, was sie in Wirklichkeit sind, mit der Folge, dass diese ihren Tod selbst herbei führen. Es ist, als wenn er sie ins Leere laufen lassen und dort durch Bestäubung sichtbar machen würde. Und je sichtbarer sie werden, umso nervöser werden sie, verlieren sich in den von ihnen selbst verstreuten Giften, vergiften versehentlich, aber zwangsläufig auch sich selbst.

Reflektierendes Zuschauen - wie von aussen - genügt, ist als solches kritische Praxis.