K166 | Die Studie "Stigma" von Erving Goffman Teil 1: Begriff und grundlegende Techniken der Bewältigung beschädigter Identität 20. Januar 2018 Hinweis vom 8.9.2018: Die Kommentare K166 bis K169 zu Goffmans "Stigma" sind neu zu einen einzigen Aufsatz zusammengefasst, in einer verbesserten und zum Teil auch neu geschriebenen Fassung. Der Aufsatz liegt als pdf in der Rubrik Aufsätze vor (47 S.). Siehe den Aufsatz als pdf direkt auch hier: zum_pdf . |
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1. VorbemerkungenIm Jahr 1963 erschien - zuerst in englischer Sprache - die vom kanadischen Soziologen Erving Goffman (1922-1982) verfasste Studie "Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität" (Nachweis unten im gelben Kasten). In diesem Kommentar K166 wird die Studie in einem 1. Teil (zu Kap. 1 und 2 des Buchs), im nächsten Kommentar K167 in einem 2. Teil (zu Kap. 3), im übernächsten Kommentar K168 in einem 3. Teil (zu Kap. 4) und schliesslich im Kommentar K169 in einem 4. Teil (zu Kap. 5) vorgestellt. Wie immer bei Darstellungen von Büchern ist auch hier vorweg darauf hinzuweisen, dass nur auf wenige zentrale Aspekte des Buchs eingegangen werden kann. Die Darstellung kann die Lektüre von "Stigma" nicht ersetzen. Inhaltlich wäre darauf hinzuweisen, dass Erving Goffman das von ihm untersuchte Stigma, verstanden als eine Form gesellschaftlich beschädigter Identität, als eine soziale Gegebenheit voraussetzt, ohne sich gross um die Frage zu kümmern, warum dem so ist und ob dem so sein muss. Goffman setzt das Phänomen als eine soziale Gegebenheit voraus und analysiert "lediglich" - und das ist sein Grundthema -, wie die stigmatisierten Individuen ihre - nun mal gegebene - besondere soziale Lage bewältigen. Goffman stellt mit Bezug auf dieses "Bewältigen" nun aber nicht etwa die Frage, inwiefern es erfolgreich oder nicht erfolgreich vonstatten geht, sondern er analysiert die empirisch sich findenden Bewältigungsformen ohne Wertungen. Wie bewältigt das Individuum mit Stigma die Interaktion mit sog. Normalen? Die verschiedenen Varianten stellt Goffman fast wie ein Naturwissenschaftler oder Chemiker wertfrei dar, sodass man ihn als einen "soziologischen Chemiker" bezeichnen möchte (Erving Goffman hatte in jungen Jahren, bevor er zur Soziologie wechselte, ein Chemiestudium begonnen). Goffman bleibt in seiner Terminologie dem gesellschaftlich vorherrschenden Sprachgebrauch verhaftet. So spricht er bei denjenigen Menschen, die hinsichtlich Verhalten und Erscheinungsbild den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen, ganz einfach von den Normalen (ohne Anführungszeichen), und bei denjenigen Menschen, die den Konventionen nicht entsprechen und deswegen diskreditiert werden, von den Stigmatisierten oder den Diskreditierten. Dadurch freilich, dass er Normale und Stigmatisierte ganz neutral wie zwei Elemente behandelt, die in bestimmter Weise in Verbindung treten, nimmt er gleichwohl nicht, und auch implizit nicht - wie es seine Terminologie auf den ersten Blick vermuten liesse - Stellung für das Normale. Dank seines analytisch-wertfreien Verfahrens bringt Goffman es sogar zustande, eine grössere Empathie für die stigmatisierten Individuen zu erzeugen als wenn er, was er eben nicht macht, Sympathie- oder Mitleidsbekundungen formulieren würde. Goffman verleiht den stigmatisierten Menschen zudem dadurch eine Stimme, dass er deren Stellungnahmen so, wie er sie in der Literatur vorfindet (Goffmans Studie ist wesentlich eine Literaturstudie), zitiert. 2. Begriffliche Vorklärungen zum StigmaDie Stellungnahme eines Teenagers mit Stigma, die einem geradezu das Herz zerreisst, zitiert Goffman bereits im Vorwort zu seiner Studie: |
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Dear Miss Loneleyhearts Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt, und ich weiss nicht, was ich tun soll, und ich möchte Sie bitten, mir zu sagen, was ich tun soll. Als ich ein kleines Mädchen war, war es nicht so schlimm, weil ich mich daran gewöhnt hatte, dass die Kinder aus unserem Viertel sich über mich lustig machten, aber jetzt möchte ich gerne Freunde haben wie andere Mädchen und samstag abends ausgehen, aber kein Junge will mit mir gehen, weil ich ohne Nase geboren wurde - obwohl ich gut tanzen kann und eine hübsche Figur habe und mein Vater mir schöne Kleider kauft. Den ganzen Tag sitze ich da und sehe mich an und heule. Mitten im Gesicht habe ich ein grosses Loch, das die Leute und selbst mich erschreckt, so dass ich es den Jungen nicht übelnehmen kann, wenn sie nicht mit mir ausgehen wollen. Meine Mutter liebt mich, aber wenn sie mich ansieht, weint sie schrecklich. Was habe ich nur getan, um so ein schlimmes Schicksal zu verdienen. Selbst wenn ich wirklich etwas Böses getan habe, tat ich es doch nicht, bevor ich ein Jahr alt war, und ich wurde schon so geboren. Ich habe Papa gefragt, und er sagt, er weiss es nicht, aber es kann ja sein, dass ich für seine Sünden bestraft bin. Aber das glaube ich nicht, weil er ein sehr netter Mann ist. Sollte ich Selbstmord begehen? Es grüsst Sie Ihre Verzweifelte (zitiert in: Goffman (1963) 2016: S. 8 (Aus Miss Lonelyhearts von Nathanael West, S. 14-15)) |
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Erving Goffman
(1963) Stigma Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug Fr.a.M.: Suhrkamp (1975) 2016 |
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Zu Beginn seiner Studie führt Goffman begriffliche Vorklärungen zum Stigma durch, wobei seine ganze Untersuchung als Versuch angesehen werden kann, das Stigma auf einen Begriff zu bringen. Mit Bezug auf Personen, die uns als Fremde entgegentreten, hegen wir immer eine bestimmte, auf die jeweilige Situation abgestimmte Erwartung, wie die Eigenschaften dieser Person auszusehen haben. Wir antizipieren eine bestimmte Identität, die der sozialen Situation angemessen ist und die von Goffman als soziale Identität bezeichnet wird. In dieser Antizipation stellen wir unbewusst bestimmte Forderungen an die soziale Identität der uns gegenüber tretenden Fremden, wobei wir diese Forderung immer erst bezogen auf die jeweilige Situation entwickeln, weshalb Goffman hierbei von 'im Effekt' gestellten Forderungen spricht. Es sind Forderungen, die gleichsam in künstlicher Erwartung gestellt werden, und bei dieser erwarteten sozialen Identität spricht Goffman entsprechend von der virtualen sozialen Identität. Diese virtuale soziale Identität trifft auf das, was die oder der jeweilige Fremde in der Interaktion tatsächlich an Eigenschaften zeigt, das heisst - in der Terminologe von Goffman - auf die aktuale soziale Identität. (Vgl. Goffman (1963) 2016: S. 10) Wenn die vom Fremden eingebrachte aktuale soziale Identität der virtualen sozialen Identität in einer besonderen Weise nicht entspricht, dann macht sich das geltend, was Goffman als Stigma bezeichnet:
Goffman unterscheidet drei Typen von Stigma:
Zuerst erörtert Goffman Versuche der stigmatisierten Individuen, der Stigmatisierung ganz zu entkommen, bei physischen Deformationen beispielsweise durch die Mittel der plastischen Chirurgie oder bei individuellen Charakterfehlern durch die Mittel der Psychotherapie. Bei körperlichen Handikaps kann auch versucht werden, diese durch hartes Training zu kompensieren, sodass beispielsweise der Gelähmte via die Folter des Lernens wieder lernt zu schwimmen, zu reiten, Tennis zu spielen und ein Flugzeug zu steuern; ähnlich der Blinde, der ein ausgezeichneter Skiläufer und Bergsteiger wird (Goffman (1963) 2016: S. 19). Umgekehrt können die stigmatisierten Personen versuchen mit dem, was als Realität und als erwartete soziale Identität bezeichnet wird, zu brechen und eigensinnig die eigene Identität zur sozialen zu erheben oder als mindestens so wertvoll einzustufen wie das üblicherweise als normal Angesehene (vgl. dazu: Goffman (1963) 2016: S. 18ff.). Solche Bewältigungsversuche des Stigmas, die dann eher als Beseitigungsversuche zu betrachten wären, interessieren Goffman allerdings weniger. Es geht ihm zentral um die unmittelbare Interaktion der stigmatisierten Person mit den Normalen und den dabei zum Einsatz kommenden Strategien:
Goffman weist darauf hin, wie generell schwierig diese 'gemischten Kontakte' von Stigmatisierten und Normalen sind, wie rasch sogar auch ein scheinbar helfendes Verhalten von Seiten des Normalen für den Stigmatisierten zum Problem werden kann. Ein Berufsverbrecher berichtet, wie ein Normaler auf seine Lektüre von Büchern reagierte:
Goffman geht davon aus, dass die beim Zusammentreffen von Stigmatisierten und Normalen entstehende Unbehaglichkeit zumeist beiderseits, das heisst auch vom Normalen verspürt wird:
3. Sichtbares Stigma (diskreditierte Person) oder unsichtbares Stigma (diskreditierbare Person)Bei der Art und Weise, wie stigmatisierte Individuen ihre Situation bewältigen, spielen neben der individuellen Verfassung des Betroffenenen selber eine Vielzahl von äusserlichen Faktoren eine Rolle. Einen wichtigen Unterschied leitet Goffman daraus ab, ob das Stigma bekannt und gut sichtbar ist (diskreditierte Person) oder ob das Stigma zwar gegeben, aber kaum bekannt und wenig sichtbar ist (diskreditierbare Person).
Es ist gar nicht einfach, Beispiele für die diskreditierte und Beispiele für diskreditierbare Personen anzugeben, die als voll gültige anzusehen sind. Ein gelähmter Junger beispielsweise erscheint zumeist als diskreditierte Person, aber Fremde können ja auch für den Augenblick annehmen, dass ihn ein Unfall zeitweilig ausser Gefecht gesetzt hat, genau wie ein Blinder, der durch einen Freund in ein dunkles Taxi geführt wird, einen Moment lang finden kann, dass ihm Sehvermögen unterstellt worden ist (Goffman (1963) 2016: S. 95f.). Das gilt - hier beigefügt - erst recht mit Bezug auf den Kontakt über Medien (Telefon, e-mail, chat usw.), worin die gelähmte oder die blinde Person als diskreditierte unerkannt bleiben kann, sie hier dann also eine diskreditierbare ist. Umgekehrt erscheint beispielsweise eine Prostitutierte ausserhalb ihres beruflichen Alltags als diskreditierbare Person, welche um die sorgfältige Geheimhaltung ihres Fehlers gegenüber einer Personenklasse, der Polizei besorgt ist, während (sie) sich aber anderen Personenklassen systematisch enthüllt, nämlich Kunden, Artgenossen, Verbindungsmännern, Hehlern und dergleichen (ebda), hier dann also als diskreditierte Person in Erscheinung tritt. Die Hauptmöglichkeit im Leben einer diskreditierten Person besteht nach Goffman darin, dass ...
Die Hauptmöglichkeit im Leben einer diskreditierbaren Person besteht nach Goffman darin, dass ...
Damit besteht das zu bewältigende Hauptproblem bei Interaktionen für die diskreditierte Person mit Normalen im Spannungsmanagement und für die diskreditierbare Person mit Normalen im Informationsmanagement. Da für eine betroffene Person nun aber, wie eben gesagt, nicht für jede Interaktion gleich klar gesagt werden kann, ob sie jetzt in einer diskreditierten oder einer diskreditierbaren Situation sich befindet, dürfte sie wechselnd mit beiden Bewältigungsformen konfrontiert sein, dem Spannungsmanagement und dem Informationsmanagement. Deshalb kann in der Analyse beides auch nicht immer klar auseinander gehalten werden. Unter Berücksichtigung dieser Unschärfe lässt sich doch aber klar sagen, dass das erste Hauptkapitel des Buchs von Goffman (I. Stigma und soziale Identität) auf diskreditierte Personen und deren Spannungsmanagement und das zweite Hauptkapitel des Buchs (2. Informationskontrolle und persönliche Identität) auf diskreditierbare Personen und deren Informationsmanagement bezogen ist. Dem wäre beizufügen, dass vom Stigma üblicherweise eher beim ersten allgemein sichtbaren Fall gesprochen wird, weshalb das Wort wohl auch nur in der ersten Kapitelüberschrift explizit vorkommt. Die diskreditierbare Person hat das Stigma zwar schon auch, doch wird es in der sozialen Interaktion üblicherweise nicht wahrgenommen, ist in dieser Perspektive also gar nicht vorhanden. 4. Die soziale Identität als Grundproblem der diskreditierten Person und die persönliche Identität als Grundproblem der diskreditierbaren PersonEine besondere Schwierigkeit im Verständnis von Goffmans Analyse besteht in der von ihm getroffenen Unterscheidung zwischen sozialer Identität (zentral im 1. Kapitel des Buchs) und persönlicher Identität (zentral im 2. Kapitel des Buchs). Goffman verwendet die Begriffe in den Kapiteln wie separate (chemische) Zutaten, die er für sich zwar erläutert, für die er aber kaum expliziert, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Die persönliche Identität wäre hier vereinfacht zu umschreiben als das Resultat eines Bündels von Attributen, welche eine Person auf sich vereinigt und die sie - infolge der besondere Kombination der Attribute - zu einer einzigartigen werden lässt. Bezieht man sich auf die drei oben verwendeten Hauptattribute zur Bestimmung des Stigmas, also die körperliche Erscheinung (Geschlecht, Körpergrösse, Gewicht, Hautfarbe, Haarfarbe, Form der Nase usw.), der individuelle Charakter (Temperament, Egozentrik, "Philosophie", sexuelle Vorlieben usw.) und die phylogenetische Erscheinung (Schichtzugehörigkeit, Ethnie, Nation, Religion usw.), dann bestimmt sich die persönliche Identität im Grunde durch die bei einer Person gegebene besondere Kombination von Ausformungen der drei Attribute (inklusive aller Facetten der besonderen Haarfarbe, des besonderen Temperaments, des besonderen Nationalismus oder Antinationalismus usw.). Dadurch wird die Person im Grunde unvergleichlich, erhält eine persönliche Identität. Mit Bezug auf die eben genannten Attribute bestehen in der Gesellschaft Erwartungen darüber, in welcher normativen Bandbreite Ausformungen zu liegen haben. Dieses bestimmt dann die virtuale soziale Identität in einer Interaktion sowie, ob die persönliche Identität der Person, die in eine Interaktion eintritt und sich dadurch in eine aktuale soziale Identität verwandelt, dieser virtualen sozialen Identität genügt oder nicht genügt (dieses letztere wurde oben in der ersten Bestimmung vom Stigma schon erläutert). Die persönliche Identität wird in einer sozialen Interaktion also immer - und darauf weist Goffman zu wenig klar hin - zur aktualen sozialen Identität, die sodann an der virtualen sozialen Identität gemessen wird. Wenn dieses so geklärt ist, kann umso besser verständlich gemacht werden, weshalb Goffman im ersten Kapitel das Spannungsmanagement mit der sozialen Identität (erster Fall) und im zweiten Kapitel das Informationsmanagement mit der persönlichen Identität (zweiter Fall) zusammendenkt. Im ersten Fall ist die persönliche Identität der Person mit Stigma hinsichtlich Stigma offen gelegt und damit auch die Differenz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität (diskreditierte Person), weshalb es für die Interagierenden hier wesentlich darum zu gehen hat, die Spannung zwischen aktualer und virtualer sozialer Identität zu managen. Der Fokus liegt hier deshalb - und im ersten Kapitel des Buchs so thematisiert - auf der Frage der sozialen Identität. Im zweiten Fall ist die persönliche Identität der Person mit Stigma hinsichtlich Stigma nicht offen gelegt (diskreditierbare Person), sodass die für die Stigmatisierung bedeutsame Differenz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität nicht besteht, also kein Spannungsmanagement betrieben werden muss (die soziale Identität ist nicht fraglich). Stattdessen stellt sich aber das Problem des Umgangs mit dem zwar unsichtbaren, aber zur persönlichen Identität gehörigen Stigma. Wie kann die betreffende Person in sozialen Interaktionen die Information um das geheime Moment ihrer persönlichen Identität managen? Soll sie diese ganz enthüllen oder nicht? Der Fokus liegt hier deshalb - und im zweiten Kapitel des Buchs so thematisiert - auf der Frage der persönlichen Identität. 5. Zum Spannungsmanagement der diskreditierten Person (Frage der sozialen Identität): Teilnehmende Andere, Professionelle, WeiseDas Spannungsmanagement hinsichtlich offen gelegter Diskrepanz zwischen aktualer und virtualer sozialer Identität ist also das Hauptproblem der diskreditierten Person. Ihre soziale Identität ist eine beschädigte, verursacht Spannungen zur allgemein erwarteten, und also werden die Beteiligten versuchen, diese Spannungen zu reduzieren. Eine wichtige Strategie des Spannungsabbaus besteht nach Goffman darin, dass es für das stigmatisierte Individuum, zum Beispiel das ohne Nase geborene ...
Wenn die sozialen Interaktionen nur noch zwischen beispielsweise Schwerhörigen stattfinden, dann generiert dieses so etwas wie eine eigene virtuale soziale Identität, der alle Schwerhörigen mit ihrer aktualen sozialen Identität bestens genügen können. Die besagte Spannung zwischen den beiden Identitäten ist dann erheblich reduziert. Sodann gibt es Lobby-Organisationen, die sich für die (allenfalls eigene) Gruppe mit Stigma einsetzen und besondere Personen mit Stigma, die in Vertretung der Gruppe als - wie sie von Goffman bezeichnet werden - Professionelle auftreten und gegenüber den Normalen sich für die Lage der ganzen Gruppe einsetzen. Das dient ebenfalls der Spannungsreduktion und der Stärkung der sozialen Identität der Stigmatisierten. (Vgl. Goffman (1963) 2016: S. 35ff.)
So findet zum Beispiel die Prostituierte in ihren Freistunden Zuflucht bei der Künstlerboheme, bei Schreibern, Schauspielern und Möchte-gern-Intellektuellen. Dort kann sie als eine ausgefallene Persönlichkeit akzeptiert werden, ohne eine Kuriosität zu sein (Goffman (1963) 2016: S. 41). Goffman geht auch auf den moralischen Werdegang von Personen mit Stigma ein:
Im ersten Muster lernt (zum Beispiel) ein Waisenknabe, dass Kinder natürlicher- und normalerweise Eltern haben, gerade dann, wenn er erfährt, was es bedeutet, keine zu haben (Goffman (1963) 2016: S. 45f.). Im zweiten Muster kann ein Kind mit Stigma durch die Informationskontrolle betreibenden Eltern zunächst davor geschützt werden, sich sozial als jemand mit Stigma zu sehen. Das kann dann aber schlagartig beispielsweise mit dem Schuleintritt ändern, wo das Kind aufgrund seines Stigmas mit Spott, Hänseln, Ächtung und Prügeleien (Goffman (1963) 2016: S. 45) konfrontiert wird und so eben unmittelbar zu spüren bekommt, dass es ein Stigma besitzt. Es kann auch zu Formen der zufälligen Enthüllung kommen:
Im dritten Muster wird eine Person erst im fortgeschrittenen Alter zum Beispiel infolge eines plötzlich auftretenden körperlichen Gebrechens mit einem eigenen Stigma konfrontiert. Voraussichtlich wird sein besonderes Problem seine Neuidentifizierung sein, und mit besonderer Wahrscheinlichkeit wird es eine Missbilligung seiner selbst entwickeln (Goffman (1963) 2016: S. 48) Diese Person ist dann mit dem Problem konfrontiert, dass sie plötzlich eine von denjenigen ist, die sie selber vorher immer mehr oder weniger bewusst herabwürdigte. Im vierten Muster wird Bezug genommen auf die Besonderheit, dass eine Person infolge eines neu dazu gekommenen Stigmas (z.B. eine Erblindung) zwischen dem Umgang mit Prä-Stigma-Bekanntschaften und dem Umgang mit Post-Stigma-Bekanntschaften unterscheiden lernt. Der Umgang mit zweiteren Bekanntschaften scheint spannungsfreier zu sein:
6. Zum Informationsmanagement der stigmatisierbaren Person (Frage der persönlichen Identität): Täuschen und InformationskontrolleIm Falle eines nicht ersichtlichen Stigmas ist nicht das Spannungsmanagement zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität das Grundproblem, da diese ja übereinzustimmen scheinen, sondern die Frage, inwieweit die Person mit nicht ersichtlichem Stigma andere von eben diesem Stigma informieren oder nicht informieren soll. Das ist gemeint mit Informationsmanagement. Wenn eine Person zwar mit einem Stigma behaftet ist, dieses in der konkreten sozialen Situation aber nicht ersichtlich ist (z.B. dass er ein ehemaliger Geisteskranker, dass sie eine Prostituierte, dass er ein Verbrecher ist usw.), dann steht diese Person vor der Frage, ob sie das zu ihrer Persönlichkeit gehörige Attribut für sich behalten soll oder nicht. Oft wird sie, aus Furcht, andernfalls sozial herabgestuft zu werden, die Information für sich behalten, muss damit also die anderen Interaktionsteilnehmer mehr oder weniger stark über ihre persönliche Identität täuschen. Täuschen wird von Goffman als das zentrale Mittel von diskreditierbaren Personen beschrieben, ihr Stigma zu bewältigen (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 94ff.). Die Person kann dann aber nicht richtig sich selber sein und hat dann insofern mit ihrer persönlichen Identität zu kämpfen. Beim Täuschen stellen sich verschiedenste Probleme. Ein zentrales besteht darin, dass die diskretierbare Person in gewissen Situationen ihr Stigma dann doch offen sozusagen hervorkehren muss, weil dieses zu ihrer Existenzsicherung (etwa des Landstreichers oder der Prostituierten) dazu gehört.
Hier geschieht es dann eben, dass Dritte vom Stigma erfahren, die es eigentlich nicht erfahren dürften. Wenn die Person mit Stigma diese Dritten andernorts über ihr Stigma - eben etwa, dass sie ein Landstreicher ist - täuschen will, gelingt dieses nicht mehr, weil sie identifiziert ist. Man hat dabei auch an die Lage von Armen zu denken, die über ihre Armut hinweg täuschen können, bis sie bei einem Sozialamt um Hilfe nachsuchen müssen, um in der Folge als 'Arme' überhaupt erst identiziert zu sein und dadurch erst herabgewürdigt zu werden (so beschrieben bei Georg Simmel). Wenn beispielsweise eine Prostituierte ihre Eltern und ihre Verwandten darüber täuscht, dass sie als Prostituierte arbeitet, dann besteht immer die Gefahr, dass sie von diesen entdeckt wird. So erzählt ein Callgirl:
Insbesondere bei körperlichen Gebrechen wie Schwerhörigkeit oder Stottern ist es umgekehrt oft so, dass der engere Familienkreis um den Fehler weiss, nicht aber der weitere Kreis von Personen, in welchem die betroffene Person verkehrt. Ein Stotterer erzählt:
Bei den Betroffenen ist also immer eine mehr oder weniger grosse Angst vorhanden, ob die Täuschung auch gelingt und das Stigma nicht entdeckt wird. Es kann im Übrigen auch sein, dass einzelne Normale bereits ums Stigma wissen, aber ihrerseits vortäuschen, dass sie es nicht wissen. Die täuschende Person mit Stigma weiss auch nie, wie eine Entdeckung sich auswirkt, ob die soziale Interaktion von da ab spannungsgeladen wird (die oben beschriebene erste Hauptmöglichkeit) oder ob es sich beim "Entdecker" vielleicht um einen 'Weisen' handelt (vgl. dazu ebenfalls oben), was dann eine Erleichterung wäre. Von der Entdeckung ihres Stigmas berichtet eine schwerhörige Person:
Das Täuschen ist also nicht immer ganz einfach, und manchmal sind auch Zeichen vorhanden - Goffman spricht von Stigmasymbolen -, die deren Träger verraten können:
Und dann gibt es die ganz boshaften Praktiken, wo zur Kennzeichnung beispielsweise eines Verbrechers Initialen eingebrannt oder Ohren beschnitten werden (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 61, Fn 9). Hier will man erreichen, dass von der Kennzeichnung auf das an sich nicht sichtbare Stigma (z.B. die Unehre, ein Verbrecher zu sein) geschlossen werden kann. Eine so gezeichnete Person ist dann nicht mehr in der Lage zu täuschen. Das verweist auch auf den historischen Ursprung vom Stigma:
Die Personen mit Stigma entwickeln ihrerseits ihre Zeichen, hier dann aber genau um zu verhindern, dass sie zum Beispiel auf offener Strasse entdeckt werden. Das dient dann primär der von Goffman so bezeichneten Informationskontrolle.
Auch die Angehörigen von stigmatisierten Personen (etwa Ehefrauen von im Gefängis einsitzenden Ehemännern) können vom Stigma indirekt betroffen sein und dementsprechend darauf achten, wem sie die Information des Aufenthaltsorts des Mannes bekannt machen. Auch dieses Feld der - wie es Goffman nennt - Techniken der Informationskontrolle (Goffman (1963) 2016: S. 116ff.) ist weit. 7. Eine zwischen Spannungs- und Informationsmanagement liegende adaptive Technik: Kuvrieren
Beim Kuvrieren ist das Stigma den Normalen zwar bekannt und die betroffene Person versucht auch nicht, über das Vorhandensein hinweg zu täuschen, doch verkleidet sie das Stigma so, dass es in der Interaktion weniger aufdringlich wirkt. Die Verkleidung dient zwar auch der Täuschung, doch geht es dabei nicht um die völlige Spannungsbeseitigung, sondern nur um Spannungsabbau. Goffman weist besonders darauf hin, dass soziale Interaktionen bestimmte Etiketten, Verhaltensweisen usw. voraussetzen, die derart selbstverständlich sind, dass sie uns im Allgemeinen gar nicht mehr auffallen. Erst wenn diese Selbstverständlichkeiten nicht mehr eingehalten werden, das heisst beispielsweise, wenn die andere Person (weil sie blind ist) uns nicht ins Gesicht schaut oder sie sich (weil sie schwerhörig ist) am Gespräch nicht beteiligt, werden diese Selbstverständlichkeiten - infolge Nichteinhaltung - ins Bewusstsein gehoben. Dadurch entsteht die besagte Spannung in der Interaktion. Und hier versuchen die stigmatisierten Personen zum Voraus mittels Kuvrieren Spannung abzubauen, indem sie eben beispielsweise als Blinde üben, dem anderen Sprechenden ins Gesicht zu schauen, oder als Schwerhörige immer versuchen, beim Dinner neben jemanden mit einer kräftigen Stimme zu sitzen usw. (Vgl. Goffman (1963) 2016: S. 130f.) Fortsetzung folgt im nächsten Kommentar K167 ... |
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