K167 Die Studie "Stigma" von Erving Goffman
Teil 2: Ich-Identität und Gruppenausrichtung

3. Februar 2018

Hinweis vom 8.9.2018: Die Kommentare K166 bis K169 zu Goffmans "Stigma" sind neu zu einen einzigen Aufsatz zusammengefasst, in einer verbesserten und zum Teil auch neu geschriebenen Fassung. Der Aufsatz liegt als pdf in der Rubrik Aufsätze vor (47 S.). Siehe den Aufsatz als pdf direkt auch hier: zum_pdf .

Hier wird der Kommentar K166 von vor zwei Wochen mit dem 2. Teil fortgesetzt ...

Goffman nimmt im ersten Kapitel seiner Studie Bezug auf die soziale Identität, im zweiten Kapitel Bezug auf die persönliche Identität und im dritten Kapitel Bezug auf die Ich-Identität. Die Ich-Identität steht im Zentrum dieses Kommentars K167. Goffman unterscheidet somit drei Ausformungen von Identität. In seiner Studie zum Stigma geht es ja auch um die - wie es im Untertitel der Studie heisst (Nachweis im gelben Kasten) - Techniken der Bewältigung beschädigter Identität.

Goffmans Studie umfasst insgesamt fünf Kapitel, deren letzte zwei dem Versuch gewidmet sind, mit Hilfe des Begriffs der sozialen Abweichung eine Brücke zu bilden, welche das Stigma-Studium mit dem Studium der übrigen sozialen Welt verbindet (Goffman (1963) 2016: S. 156). Diese Brückenbildung wird - entgegen der ursprünglichen Absicht - erst im nächsten Kommentar K168 als 3. Teil zu Goffmans 'Stigma' besprochen.

Hier nun geht es um Ich-Identität und Gruppenausrichtung:

8. Ich-Identität, die dritte Form der Identität neben der sozialen und der persönlichen Identität

Goffman umschreibt die Ich-Identität folgendermassen:

In dieser Abhandlung wurde ein Versuch unternommen, zwischen sozialer und persönlicher Identität zu unterscheiden. Beide Identitätstypen können besser verstanden werden, wenn man sie gleichstellt und sie mit dem kontrastiert, was Eriksen (gemeint ist Erik H. Eriksen, der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker, kw) und andere 'empfundene' oder Ich-Identität genannt haben, nämlich das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt.
Soziale und persönliche Identität sind zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht. (...) Auf der anderen Seite ist Ich-Identität zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit, die notwendig von dem Individuum empfunden werden muss, dessen Identität zur Diskussion steht. (...) Natürlich konstituiert das Individuum sein Bild von sich aus den gleichen Materialien, aus denen andere zunächst seine soziale und persönliche Identifizierung konstruieren, aber es besitzt bedeutende Freiheiten hinsichtlich dessen, was es gestaltet.
Der Begriff der sozialen Identität erlaubte uns, Stigmatisierung zu betrachten. Der Begriff persönliche Identität erlaubte uns, die Rolle der Informationskontrolle im Stigma-Management zu betrachten. Die Idee der Ich-Identität erlaubt uns, zu betrachten, was das Individuum über das Stigma und sein Management empfinden mag, und führt uns dazu, den Verhaltensregeln, die ihm hinsichtlich dieser Dinge gegeben werden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
(Goffman (1963) 2016: S. 132f.; Hervorhebungen durch kw)

Verkürzt wäre es so zu erklären, dass das Individuum mit Stigma die beiden behandelten Grundprobleme, das der sozialen Identität (Spannungsmanagement) und das der persönlichen Identität (Informationsmanagement), mittels der Ausbildung einer bestimmten Ich-Identität - soweit möglich - für sich zu lösen versucht. Demnach kann das Individuum mit Stigma dank dieser Ich-Identität die in den sozialen Interaktionen erfolgenden Beschädigungen der sozialen Identität (bei diskreditierten Personen) respektive Beschädigungen der persönlichen Identität (bei diskreditierbaren Personen) minimieren. Es lässt sich auch biographisch erklären: Im notwendig werdenden Spannungs- oder Informationsmanagement sammelt das stigmatisierte Individuum Erfahrungen, auf die es reflektieren und in der Folge Verhaltensmuster entwickeln kann, die ihm spannungsfreiere Interaktionen mit den Normalen ermöglichen. Die Hervorbildung einer Ich-Identität meint diesen Prozess.

9. Durch Repräsentanten oder Professionelle schmackhaft gemachte Verhaltensmassregeln (zur Ausbildung einer Ich-Identität)

Ausgangspunkt ist die grundlegend schwierige Lage, in der das stigmatisierte Individuum sich befindet:

Wenn feststeht, dass das stigmatisierte Individuum in unserer Gesellschaft Identitäts-Standards erwirbt (gemeint sind hier die Standards der Normalen, kw), die es auf sich anwendet, obwohl es ihnen nicht entspricht, ist es unvermeidlich, dass es hinsichtlich seines eigenen Ichs einige Ambivalenz empfinden wird.
(Goffman (1963) 2016: S. 133; Hervorhebungen durch kw)

Das bedeutet zunächst, dass der Prozess des Aufbaus einer Ich-Identität, den jedes Individuum durchläuft, bei stigmatisierten Individuen aufgrund der unklaren Identitäts-Standards besonders schwierig ist. Es wird in den konkreten sozialen Interaktionen ja ganz besonders hin- und hergeworfen zwischen Annahme und Ablehnung, sodass es zuletzt überhaupt nicht recht weiss, was es von sich denken soll. Also wird es versuchen - und das ist der Ausgangspunkt Goffmans für seine Analyse der Ich-Identität von stigmatisierten Personen -, sich eine hilfreiche Doktrin, einen Kodex oder eine Verhaltensmassregel (Goffman benutzt wechselnd alle drei Begriffe) zu eigen zu machen.

Bei diesem gegebenen grundlegenden Widerspruch-in-sich des stigmatisierten Individuums ist es verständlich, dass es einige Anstrengung unternehmen wird, einen Weg aus diesem Dilemma heraus zu finden, und sei es nur, eine Doktrin zu finden, die in seine Situation einen zusammenhängenden Sinn hereinbringt. In der gegenwärtigen Gesellschaft bedeutet dies, dass das Individuum nicht nur auf eigene Faust versuchen wird, einen solchen Kodex auszuarbeiten, sondern dass auch Professionelle einspringen werden - manchmal mit der Erzählung ihrer Lebensgeschichte oder dem Bericht, wie sie eine schwierige Situation meisterten.
(Goffman (1963) 2016: S. 136; Hervorhebungen durch kw)

Goffman geht - hier ganz soziologisch - davon aus, dass das Individuum nicht nur auf eigene Faust versuchen wird, einen solchen Kodex auszuarbeiten, sondern dass es sich dafür an Dritten orientiert. Dritte präsentieren dem stigmatisierten Individuum mögliche Kodizes, die von Goffman folgendermassen umschrieben werden:

Die Kodizes, die dem stigmatisierten Individuum präsentiert werden, sei es explicit oder implicit, tendieren dahin, bestimmte Standarddinge zu behandeln. Ein wünschenswertes Verhaltensmuster von Enthüllen und Verbergen wird schmackhaft gemacht. (...) Formeln, wie man mit heiklen Situationen fertig wird; die Hilfe, die man seinesgleichen gewähren sollte; der Typus von Fraternisierung mit Normalen, an den man sich halten sollte; die Arten von Vorurteilen, die man ignorieren, und die Arten, die man offen attackieren sollte; das Ausmass, in dem man sich als eine Person, so normal wie jeder andere, präsentieren sollte, und das Ausmass, in dem man für sich eine leicht andersartige Behandlung beanspruchen sollte; die Fakten über seinesgleichen, auf die man stolz sein sollte; das 'mit-guter-Miene-Hinnehmen' seiner eigenen Andersartigkeit, dessen man sich befleissigen sollte.
(Goffman (1963) 2016: S. 136f.; Hervorhebungen durch kw)

Diese Kodizes werden dem stigmatisierten Individuum nun - so der nächste Schritt von Goffman - vor allem durch bestimmte Repräsentanten, die Goffman auch als Professionelle bezeichnet, schmackhaft gemacht. Auf diese Repräsentanten ist Goffman schon an früherer Stelle in seinem Buch eingegangen:

Unabhängig davon, ob diejenigen mit einem bestimmten Stigma die Rekrutierungsbasis für eine Gemeinschaft abgeben, die irgendwie ökologisch konsolidiert ist, oder nicht, unterhalten sie wahrscheinlich Vertreter und Agenturen, die sie repräsentieren. (...) Die Mitglieder können zum Beispiel ein Büro oder eine Lobby unterhalten, um ihren Fall in die Presse oder vor die Regierung zu bringen, wobei der Unterschied hier darin liegt, ob sie einen Mann ihrer eigenen Art, einen 'Artgenossen', der wirklich Bescheid weiss, nehmen können, wie es die Tauben, die Blinden, die Alkoholiker und die Juden tun, oder ob sie jemanden von der anderen Seite nehmen müssen, wie die Strafentlassenen oder die geistig Defekten.
(Goffman (1963) 2016: S. 35f.; Hervorhebung durch kw)

Wichtig ist der Hinweis, dass Repräsentanten oder Professionelle bei der hier behandelten Thematik der Ausbildung einer Ich-Identität von Goffman primär hinsichtlich der Frage thematisiert werden, auf welche Weise sie dem stigmatisierten Individuum Verhaltensmassregeln für dessen sozialen Interaktionen schmackhaft machen. Repräsentanten oder Professionelle kümmern sich selbstverständlich auch um andere Fragen, beispielsweise um terminologische Fragen - ob man bei Schwerhörigen von 'Tauben' sprechen darf oder doch nur von 'Schwerhörigen' (vgl. dazu Goffman (1963) 2016: S. 36) - oder um bauliche Massnahmen (z.B. Rollstuhlgängigkeit) usw. Um diese anderen Fragen geht es hier explizit nicht.

10. In-group- und Out-group-Ausrichtungen, vermittelt durch Repräsentanten

Das 3. Kapitel der Studie von Goffman, das sich um die Ich-Identität dreht, ist übertitelt mit: Gruppenausrichtung und Ich-Identität (Goffman (1963) 2016: S. 132). Die durch Repräsentanten vermittelte Doktrin, die den stigmatisierten Individuen helfen soll, eine hilfreiche Ich-Identität auszubilden und so mit dem besagten grundlegenden Widerspruch-in-sich besser fertig zu werden, ist entweder eher an seinesgleichen - Goffman spricht dabei von In-group-Ausrichtungen (vgl. dazu Goffman (1963) 2016: S. 140ff.) - oder eher an den Normalen - Goffman spricht dabei von Out-group-Ausrichtungen (vgl. dazu Goffman (1963) 2016: S. 143ff.) - orientiert. Wenn eine Doktrin durch Repräsentanten schmackhaft gemacht wird, dann kann diese also entweder besagen, dass das stigmatisierte Individuum sich eher an seinesgleichen (In-group) oder eher an den Normalen (Out-group) orientieren soll. Auf diese Weise wird den stigmatisierten Individuen eine je besondere Ich-Identität präsentiert:

In-group und Out-group präsentieren demnach beide eine Ich-Identität für das stigmatisierte Individuum, die erste weithin in politischen Phrasierungen, die zweite in psychiatrischen.
(Goffman (1963) 2016: S. 153; Hervorhebungen durch kw)

Es gilt an dieser Stelle einzufügen, dass Goffman durch das ganze Kapitel zur Ich-Identität hindurch immer wieder durchblicken lässt, dass er gegenüber der geschilderten Ausbildung einer Ich-Identität vermittels präsentierter Doktrinen oder Verhaltensmassregeln seine Vorbehalte hat. Auf diese Vorbehalte wird an dieser Stelle - zur Vermeidung der Verwirrung, die bei der Lektüre des Kapitels rasch entsteht - aber noch nicht eingegangen. Auf die Vorbehalte wird in den nachstehenden Abschnitten 11 und 12 eingegangen.

Im vergleichsweise kurzen Abschnitt zu den In-group-Ausrichtungen (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 140-143) erläutert Goffman die zugehörigen politischen Phrasierungen folgendermassen:

Wie zu erwarten war, können Professionelle, die einen In-group-Standpunkt vertreten, eine militante und chauvinistische Linie verfechten - sogar bis zu dem Ausmass, eine sezessionistische Ideologie gutzuheissen. Das stigmatisierte Individuum, das diesen Kurs einschlägt, wird in gemischten Kontakten die vermeinten besonderen Werte und Leistungen seiner Art rühmen. Es mag auch einige stereotype Attribute stolz zur Schau tragen, die es leicht kuvrieren könnte; so findet man Halb-Juden, die ihre Sprache aggressiv mit jüdischem Idiom und Akzent spicken, und die militanten Schwulen, die auf öffentlichen Plätzen patriotisch umherschwänzeln. Das stigmatisierte Individuum mag auch offen die halbversteckte Missbilligung, mit der Normale es behandeln, in Frage stellen und darauf lauern, den selbsternannten Weisen der 'Falschheit' zu überführen, das heisst, fortwährend des anderen Handlungen und Worte zu prüfen, bis irgendein flüchtiges Zeichen dafür spricht, dass der Anschein, er akzeptierte es, leerer Schein ist.
(Goffman (1963) 2016: S. 142; Hervorhebungen durch kw)

Es geht in den politischen Phrasierungen, die in den In-group-Ausrichtungen präsentiert werden, für das stigmatisierte Individuum also darum, dass es das stereotype Attribut stolz zur Schau trägt, so den Stigma-Prozessen entgegen treten und mit Bezug auf sein Auftreten in den konkreten sozialen Interaktionen Klarheit und damit Entspannung schaffen kann.

Im Gegensatz zum kurz gehaltenen Abschnitt zu den In-group-Ausrichtungen fällt der Abschnitt zu den Out-group-Ausrichtungen (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 143-153) einiges länger aus, und es finden sich darin auch viele Illustrationen mittels Zitaten. Der Längenunterschied dürfte damit zu tun haben, dass Verhaltensmassregeln, die vom stigmatisierten Individuum psychiatrisch einen Spannungsausgleich mit den Normalen einfordern, häufiger präsentiert werden als Verhaltensmassregeln, in denen es um ein politisches Sich-Abgrenzen von den Normalen geht.

Dem Individuum wird geraten, sich als ein vollkommen menschliches Wesen wie jedermann sonst zu sehen, eins, dem schlimmstenfalls geschieht, dass es von dem ausgeschlossen wird, was sich der Analyse letztlich als nur ein Bereich sozialen Lebens erweist. (...) Da das Gebrechen des Individuums nichts an sich ist, sollte es sich seiner oder anderer, die es haben, nicht schämen; noch sollte es sich durch den Versuch, es zu verstecken, kompromittieren. Durch harte Arbeit und beharrliches Selbsttraining sollte es andererseits gewöhnliche Standards so vollkommen wie möglich erfüllen, sich nur zurückhalten, wenn die Frage der Normierung sich erhebt; das heisst, wo seine Bemühungen den Eindruck des Versuches, seine Andersartigkeit zu leugnen, erwecken könnten. (Diese sehr feine Linie wird natürlich von verschiedenen Professionellen verschieden gezogen, aber wegen dieser Mehrdeutigkeit bedarf es umso mehr professioneller Präsentation.) Und weil auch Normale ihre Sorgen haben, sollte das stigmatisierte Individuum weder Bitterkeit, Groll noch Selbstmitleid fühlen. Eine heitere, ergebene Art sollte kultiviert werden.
(Goffman (1963) 2016: S. 144; unterstrichene Hervorhebung durch Goffman; andere Hervorhebungen durch kw)

Diese von Goffman als psychiatrisch bezeichnete Verhaltensmassregel geht dann so weit, dass Hilfestellungen, die ...

... von den Stigmatisierten oft als ein Eingriff und als eine Anmassung empfunden werden (...), taktvoll angenommen werden (sollen):
Doch ist Hilfe nicht allein für jene, die sie geben, ein Problem. Wenn der Krüppel möchte, dass das Eis gebrochen wird, muss er den Wert von Hilfe zugeben und den Menschen erlauben, sie ihm zu leisten. Unzählige Male habe ich Furcht und Verwirrung aus den Augen der Menschen weichen sehen, als ich meine Hand um Hilfe ausstreckte, und ich fühlte, wie Leben und Wärme von den helfenden Händen ausströmte, die ich genommen hatte. Wir sind uns der Hilfe nicht immer bewusst, die wir durch das Akzeptieren von Beistand gewähren, und dass wir auf diese Weise eine Basis für Kontakt etablieren können.
Ein Autor mit Kinderlähmung stellt ein ähnliches Thema dar:
Wenn meine Nachbarn an einem schneereichen Tag bei mir klingeln, um zu erfragen, ob ich etwas aus dem Laden brauche, versuche ich, auch wenn ich auf schlechtes Wetter vorbereitet bin, mir lieber irgendeinen Artikel auszudenken, als ein grosszügiges Angebot zurückzuweisen. Es ist liebenswürdiger, Hilfe zu akzeptieren, als sie in einer Bemühung, Unabhängigkeit zu beweisen, abzulehnen.
(Goffman (1963) 2016: S. 148; Zitate von Carling und von Henrich and Kriegel)

In den psychiatrischen Phrasierungen der Out-group-Ausrichtungen wird den stigmatisierten Individuen also eine Ich-Identität schmackhaft gemacht, worin die Betroffenen alles tun, um die Interaktionen mit den Normalen reibungslos zu halten, sie dazu gegenüber den Normalen gar - wie im Fall, wo sie Hilfe annehmen, die sie gar nicht bräuchten - eine therapeutische Haltung einnehmen.

11. Goffmans Vorbehalte gegen In-group- und Out-group-Ausrichtungen: (Politische) Stilisierung der Andersartigkeit oder (psychiatrische) Herstellung einer Schein-Normalität

Bezogen auf die In-group-Ausrichtungen formuliert Goffman seinen Vorbehalt folgendermassen:

Die Probleme, die mit Militanz verbunden sind, sind wohlbekannt. Wenn es das politische Fernziel ist, die Andersartigkeit vom Stigma zu befreien, kann das Individuum merken, dass gerade diese Bemühungen sein eigenes Leben politisieren können und es so vom normalen Leben, das ihm ursprünglich verweigert wurde, sogar noch verschiedener machen - wenn auch die nächste Generation seiner Gefährten von seinen Bemühungen dadurch stark profitieren kann, dass sie mehr akzeptiert ist. Indem das militante Individuum die Aufmerksamkeit auf die Situation von seinesgleichen lenkt, konsolidiert es ausserdem in mancher Hinsicht ein öffentliches Bild von seiner Andersartigkeit als einer realen Sache, und von seinen Mitstigmatisierten, als konstituierten sie eine reale Gruppe. Wenn es auf der anderen Seite irgendeine Art von Separiertheit, nicht Assimilation sucht, mag es entdecken, dass es seine militanten Bemühungen notwendig in Sprache und Stil seiner Feinde präsentiert. Darüber hinaus sind die Eingaben, die es vorbringt, die missliche Lage, über die es einen Überblick gibt, die Strategien, die es verficht, alles Teile eines Ausdrucksidioms und Gefühls, das zu der ganzen Gesellschaft gehört. Seine Verachtung für eine Gesellschaft, die es zurückstösst, kann nur im Sinne der Konzeption von Stolz, Würde und Unabhängigkeit dieser Gesellschaft verstanden werden. Kurzum, wenn es nicht irgendeine fremde Kultur gibt, auf die es zurückgreifen kann, wird es, je mehr es sich strukturell von den Normalen separiert, ihnen um so mehr kulturell gleich werden.
(Goffman (1963) 2016: S. 142f.; Hervorhebungen durch kw)

Diese Passage ist nicht etwa so zu interpretieren, dass Goffman die beschriebenen In-group-Ausrichtungen (genauso wenig wie dann auch die Out-group-Ausrichtungen) ablehnen würde. Er hält mit Bezug auf die In-group-Ausrichtungen lediglich fest, dass mit der dabei gebildeten politischen oder militanten Ich-Identität das Ziel, die gegebene Andersartigkeit vom Stigma zu befreien, nicht erreicht werden kann. Das empfohlene Vorgehen, einige stereotype Attribute stolz zur Schau zu tragen - wie es im weiter oben Zitierten hiess -, so stolz, wie die Normalen ihre Normalität zur Schau tragen, kann in der unmittelbaren sozialen Interaktion durchaus spannungslindernd wirken (also die soziale respektive persönliche Identität entlasten), doch wird dadurch - so Goffman - die präsentierte Ich-Identität, die kulturell eine 'eigene' Normalität zu etablieren sucht, strukturell vom Normalen erst recht separiert.

Man kann es vielleicht gar so sagen (Goffman sagt es nicht so), dass durch die derart hergestellte Ich-Identität die Beschädigung von sozialer oder persönlicher Identität tatsächlich minimiert wird, die Ich-Identität selber die Beschädigung dadurch aber in sich aufnimmt, dass sie das Ziel, die gegebene Andersartigkeit vom Stigma zu befreien, erst recht aus den Augen verliert. Es wäre dementsprechend von einem Transfer der Beschädigung von der sozialen/persönlichen Identität hin zur Ich-Identität zu sprechen (Goffman sagt es nicht so). Die Ich-Identität entlastet die soziale/persönliche Identität, muss sich selber dafür aber umso verschiedener vom sozialen Leben machen.

Bezogen auf die Out-group-Ausrichtungen illustriert Goffman seinen Vorbehalt zunächst anhand der Ausführungen eines Krüppels:

Aber die Leute erwarten von Dir nicht nur, dass Du Deine Rolle spielst; sie erwarten von Dir auch, dass Du Deinen Platz kennst. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Mann in einem Gartenrestaurant in Oslo. Er war sehr verkrüppelt, und er hatte seinen Rollstuhl verlassen, um eine ziemlich steile Treppe zur Terrasse, wo die Tische waren, hinaufzusteigen. Weil er seine Beine nicht gebrauchen konnte, musste er auf den Knien kriechen, und als er anfing, die Stufen auf diese unkonventionelle Weise zu ersteigen, stürzten die Kellner ihm entgegen, nicht um ihm zu helfen, sondern um ihm zu sagen, dass sie einen Mann wie ihn in diesem Restaurant nicht bedienen könnten, da die Leute es besuchten, um sich zu vergnügen, sich zu amüsieren, und nicht, um durch den Anblick von Krüppeln deprimiert zu werden.
Dass das stigmatisierte Individuum dabei ertappt werden kann, die taktvolle Akzeptierung seiner zu ernst zu nehmen, weist darauf hin, dass diese Akzeptierung bedingt ist. Sie hängt davon ab, ob Normale nicht über den Punkt hinausgedrängt werden, bis zu dem sie Akzeptierung bequem ausdehnen können - oder schlimmstenfalls, unbequem ausdehnen. Von den Stigmatisierten wird taktvoll verlangt, wie Gentlemen zu sein und ihr Glück nicht zu erzwingen; sie sollten die Grenzen der ihnen gezeigten Akzeptierung nicht auf die Probe stellen und sie auch nicht zur Basis immer weiterer Forderungen machen. Toleranz ist gewöhnlich Teil eines Geschäfts.
(Goffman (1963) 2016: S. 150; Zitat nach Carling; Hervorhebungen durch kw)

Goffman spricht bei alledem in der Folge von einer Schein-Akzeptierung - weil es zu einer vollen Akzeptierung gerade nicht kommen darf -, die ihrerseits die Basis für eine zwischen stigmatisiertem Individuum und Normalen hergestellten Schein-Normalität darstellt (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 152). Und wenn die stigmatisierte Person ihre Rolle brav spielt und dabei ihren Platz genau kennt (den sie dann eben nicht - wie im zitierten Fall im Restaurant - ungebührlich ausdehnt), dann funktioniert die Interaktion reibungslos und die soziale/persönliche Identität des stigmatisierten Individuums wird nicht unnötig belastet. Doch basiert diese Interaktion - und darauf will Goffman hinaus - auf einer bedingten Akzeptierung durch die Normalen, das heisst, es wird bloss so getan, als handle es sich um eine volle Akzeptierung (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 152f.). Auch hier ist zu sagen, dass Goffman aufgrund seines Vorbehalts solche Out-group-Ausrichtungen nicht etwa ablehnt, sondern gar betont, dass ...

... diese Expropriation seiner Reaktion (der Reaktion des stigmatisierten Individuums, kw) wohl die beste Gegenleistung sein mag, die es für sein Geld kriegen kann
(Goffman (1963) 2016: S. 152f.).

Das Ich des stigmatisierten Individuums muss sich in der Out-group-Ausrichtung somit also auf eine Schein-Normalität einlassen und damit zugeben, dass es in Wirklichkeit doch nicht voll akzeptiert ist, dass die Stigmatisierung - wie sehr sie in der Interaktion hinter der Schein-Normalität auch immer versteckt sein mag - weiterhin besteht.

Auch hier und in Analogie zu dem oben für die In-group-Ausrichtungen Festgestellten wäre (wieder über Goffman hinausgehend) zu sagen, dass die Ich-Identität die Beschädigung in sich aufnimmt, um die soziale/persönliche Identität zu entlasten. Auch bei Out-group-Ausrichtungen der Ich-Identität kommt es zu einem Transfer der Beschädigung von der sozialen/persönlichen Identität hin zur Ich-Identität (so von Goffman aber nicht gesagt).

12. Gehen Gruppenausrichtung und Ich-Identität überhaupt zusammen?

Der eben mit Goffman formulierte Vorbehalt gegen die beiden Herausbildungen einer Ich-Identität vermittels Gruppenausrichtung (In-group oder Out-group) und die dabei reproduzierten Daseinsrezepte wird von Goffman noch prinzipieller gefasst:

Obwohl diese vorgeschlagenen Lebensphilosophien, diese Daseinsrezepte so präsentiert werden, als wären sie der persönliche Gesichtspunkt des stigmatisierten Individuums, ist es - unterzieht man sie einer Analyse - offenbar, dass etwas anderes sie beseelt. Dieses andere Etwas sind Gruppen in dem weiten Sinn gleichgestellter Individuen, und dies war nur zu erwarten, da ja das, was ein Individuum ist oder sein könnte, von der Stellung deriviert, die seinesgleichen in der Sozialstruktur einnehmen.
(Goffman (1963) 2016: S. 140; Hervorhebungen durch kw)

Was bei Gruppenausrichtungen die Ich-Identität bestimmt, sind nach Goffman also nicht persönliche Gesichtspunkte, sondern gleichsam Gruppengesichtspunkte (von Goffman so nicht bezeichnet), die mit der Position der Gruppe in der Gesellschaft verknüpft sind. Für den Soziologen, der Goffman ja ist, kommt dieses - wie er im zuletzt zitierten Satz zum Ausdruck bringt - nicht überraschend.

Dabei wäre aber an die Bestimmung der Ich-Identität zu erinnern, wie sie Goffman zu Beginn des Kapitels gab (vgl. auch ganz oben, rechts vom gelben Kasten). Dort nämlich spielten die von Goffman hier wieder ins Spiel gebrachten persönlichen Gesichtspunkte des Individuums eine wichtige, wenn nicht gar die entscheidende Rolle. Es ging bei der Ich-Identität ja doch um ...

... das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt.
(
Sodann) ist Ich-Identität zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit, die notwendig von dem Individuum empfunden werden muss, dessen Identität zur Diskussion steht. (...) Natürlich konstituiert das Individuum sein Bild von sich aus den gleichen Materialien, aus denen andere zunächst seine soziale und persönliche Identifizierung konstruieren, aber es besitzt bedeutende Freiheiten hinsichtlich dessen, was es gestaltet.
(Goffman (1963) 2016: S. 132f.; ganz oben bereits zitiert; Hervorhebungen durch kw).

Diese Bestimmung der Ich-Identität als wesentlich eine subjektive und reflexive Angelegenheit, worin das Individuum bedeutende Freiheiten der Gestaltung besitzt, steht im Widerspruch zur soziologischen - vielleicht müsste man besser sagen: soziologistischen - Einsicht, die Goffman im weiter oben Zitierten formulierte, nämlich, dass das, was ein Individuum ist oder sein könnte, von der Stellung deriviert, die seinesgleichen in der Sozialstruktur einnehmen.

Es stellt sich die Frage: Wie können persönliche Subjektivität und Reflexivität in der Ich-Identität bestimmend sein, wenn eben diese Ich-Identität durch die Gruppenausrichtung respektive durch die von der Gruppe und deren Repräsentanten vermittelten Daseinsrezepte bestimmt ist?

Das stigmatisierte Individuum ist zwar weniger ausgesetzt, wenn es die von der Gruppe und deren Repräsentanten getragenen Rezepte reproduziert (Entlastung der sozialen/persönlichen Identität), doch ist sein Ich mit der Gruppe identifiziert, wodurch seine Ich-Identität den Stempel des Stigmatisierten umso definitiver trägt (wie wohl die soziale/persönliche Identität entlastet ist). Im Gleichen werden das Subjektive und Reflexive, die von Goffman für die Ich-Identität hervorgehobenen bedeutenden Freiheiten in der Gestaltung zum Verschwinden gebracht: Ich-Identität ohne frei reflektierendes Ich! Das ist der Preis, den das stigmatisierte Individuum für seine derart zugelegte Ich-Identität und die damit erreichte Spannungslinderung (soziale/persönliche Identität) zu bezahlen hat. So wird es von den Normalen am ehesten toleriert.

Goffman scheint sich bewusst zu sein, dass die auf Gruppenausrichtung basierte Ich-Identität seinem Begriff von Ich-Identität nicht recht entspricht, auch wenn er es so nicht sagt.

Am Begriff der Authentizität handelt er den Widerspruch implizit nämlich nochmals ab:

Es sollte auf der Hand liegen, dass diese verfochtenen Verhaltenskodizes das stigmatisierte Individuum nicht nur mit einer Plattform und einer Politik versorgen und auch nicht nur mit einer Instruktion, wie andere zu behandeln seien, sondern mit Rezepten für eine angemessene Haltung in bezug auf das Ich. In der Anpassung an den Kodex zu versagen heisst, eine sich selbst betrügende, missgeleitete Person zu sein; darin zu reüssieren heisst, sowohl reell als auch wertvoll zu sein, zwei geistige Qualitäten, deren Vereinigung das, was 'Authentizität' genannt wird, hervorbringt.
(Goffman (1963) 2016: S. 138; Hervorhebungen durch kw)

Wenn das stigmatisierte Individuum den Verhaltenskodizes zu folgen vermag, dann ist es reell und wertvoll, das heisst authentisch, wenn es nicht zu folgen vermag, ist es eine selbst betrügende, missgeleitete Person. Goffman hebt den Gegensatz wohl extra derart hervor, um zu zeigen, wie unwohl ihm dabei ist. Das eben Zitierte formuliert Goffman ziemlich am Anfang seiner Ausführungen zur Ich-Identität. Am Ende dieser Ausführungen und nach seiner Analyse der Identitätspolitik vermittels Gruppenausrichtung zieht er das folgende Fazit:

Selbst wenn dem stigmatisierten Individuum gesagt wird, dass es ein menschliches Wesen wie jedes andere sei, wird ihm damit gesagt, dass es unweise wäre, zu täuschen oder 'seine' Gruppe fallen zu lassen. Kurzum, es wird ihm gesagt, dass es wie jeder andere ist und dass es dies nicht ist - wenngleich es unter den Sprechern wenig Übereinstimmung darüber gibt, wieviel es von jedem für sich beanspruchen sollte. Dieser Widerspruch und Witz ist sein Schicksal und seine Bestimmung. Es fordert jene, die die Stigmatisierten repräsentieren, konstant heraus, indem es diese Professionellen zwingt, eine kohärente Identitätspolitik zu präsentieren, und sie die 'unauthentischen' Aspekte anderer empfohlener Programme sehr schnell sehen lässt, sie aber tatsächlich sehr langsam sehen lässt, dass es vielleicht überhaupt keine 'authentische' Lösung gibt.
(Goffman (1963) 2016: S. 154f.; Hervorhebungen durch kw)

Goffman hält fest, dass dem stigmatisierten Individuum gesagt werde, dass es wie jeder andere ist und dass es dies nicht ist. Der zweite Teil der Aussage wird ihm durch die Botschaft vermittelt, es solle nicht täuschen respektive seine Gruppe nicht fallen lassen und also immer auch zugeben, dass es nicht wie jeder andere ist. Das stigmatisierte Individuum soll durch die ganze erzeugte Schein-Normalität hindurch (Botschaft: es sei wie jeder andere) beständig auch zugeben, dass es nicht wie jeder andere ist, in anderen Worten: dass es ein stigmatisiertes Individuum ist und bleibt. Das heisst genau genommen nun aber nicht - wie Goffman es formuliert - dass es vielleicht überhaupt keine 'authentische' Lösung gibt, sondern nur, dass die von den Repäsentanten vermittelte Lösung (Ich-Identität vermittels Gruppenausrichtung) keine solche sein kann, wenn es denn überhaupt darum geht, für das Problem eine 'authentische' Lösung zu finden. Das Ziel hätte ja doch darin zu bestehen, dass es wirklich und nicht nur zum Schein zu keinen Stigma-Prozessen mehr kommt.

Fortsetzung folgt im nächsten Kommentar K168 ...