K169 | Die Studie "Stigma" von Erving Goffman Teil 4: Begriff der Devianz 3. März 2018 Hinweis vom 8.9.2018: Die Kommentare K166 bis K169 zu Goffmans "Stigma" sind neu zu einen einzigen Aufsatz zusammengefasst, in einer verbesserten und zum Teil auch neu geschriebenen Fassung. Der Aufsatz liegt als pdf in der Rubrik Aufsätze vor (47 S.). Siehe den Aufsatz als pdf direkt auch hier: zum_pdf . |
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Hier wird der Kommentar zu Goffmans "Stigma" mit dem 4. Teil fortgesetzt ... 16. Zum Begriff der DevianzDas Kapitel 5 von Goffmans Studie (Nachweis im gelben Kasten) ist übertitelt mit: Deviationen und Devianz. Es setzt ein mit den folgenden Worten:
Mit der Dynamik beschämender Andersartigkeit, die als ein allgemeines Merkmal sozialen Lebens zu betrachten sei, meint Goffman die Prozesse, die er in seinem vorhergehenden Kapitel 4 erläuterte. Dort beschrieb er die beschämende Andersartigkeit als ein Problem auch der Normalen, die er dementsprechend als normal Abweichende bezeichnete und für die er davon ausging, dass sie in gleicher Weise, wenn auch weniger häufig wie die stigmatisierten Individuen, ein Stigma-Management betreiben. In Kapitel 5 nun macht Goffman einen, wie er es nennt, dazu angrenzenden Sachverhalt zum Thema, denjenigen, der mit dem Terminus Devianz verbunden ist. Deviation und Devianz bestimmt er folgendermassen:
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Für Goffman gilt dasjenige Individuum als deviant, das an den sozialen Normen der Gruppe, deren Mitglied es ist, nicht festhält. Und diese Eigenart, an den sozialen Normen der Gruppe nicht festzuhalten, bezeichnet er als Deviation. Die von Goffman in diesem Kapitel 5 als deviant bestimmten Individuen unterscheiden sich insofern von den in Kapitel 4 als normal abweichend bezeichneten Individuen, als erstere an den sozialen Normen nicht festhalten, während letztere an ihnen festhalten, obwohl sie ihnen nicht zu genügen scheinen, weshalb sie Schamgefühle entwickeln (Goffman spricht im oben Erstzitierten deshalb auch von beschämender Andersartigkeit). Die stigmatisierten Individuen hinwiederum ordnet Goffman den normal Abweichenden zu, dieses gemäss seiner in Kapitel 4 vorgenommenen und im 3. Teil dieses Kommentars kritisierten Unterstellung, wonach die normal Abweichenden in gleicher Weise wie die stigmatisierten Individuen ein Stigma-Management betreiben. Zu einem solchen Stigma-Management sind die Individuen mit Deviation nicht gezwungen - von Goffman so explizit allerdings nicht gesagt -, da ihre Eigenart eben darin besteht, nicht an den sozialen Normen festzuhalten. Und da sie nicht an den sozialen Normen festhalten, empfinden sie auch keine beschämende Andersartigkeit und müssen dementsprechend kein Stigma-Management betreiben. |
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Erving Goffman
(1963) Stigma Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug Fr.a.M.: Suhrkamp (1975) 2016 |
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Infolge seiner impliziten Zuordnung der stigmatisierten Individuen zu den normal Abweichenden sowie der Kontrastierung von normal Abweichenden (halten an den Normen der eigenen Gruppe fest) und devianten Individuen (halten an den Normen der eigenen Gruppe nicht fest) werden die stigmatisierten Individuen in Kapitel 5, worin es um Deviationen und Devianz geht, kaum noch zu einem Thema. An einer einzigen Stelle gegen Ende von Kapitel 5 weist Goffman darauf hin, dass deviante Individuen auch stigmatisiert sein können (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 179). Doch gleich danach hält er fest, dass eine vollständige Betrachtung (der Devianz, kw) über das, was in der Analyse von Stigma betrachtet werden muss, hinaus- und davon wegführen würde (vgl. ebda) und fügt bei: Es gibt zum Beispiel abweichende Gemeinschaften, deren Mitglieder, besonders dann, wenn sie fern von ihrem Milieu sind, sich um ihre soziale Akzeptierung nicht besonders kümmern (dieses meint Devianz, kw) und deshalb kaum in bezug auf das Managen von Stigma analysiert werden können (...). (Goffman (1963) 2016: S. 179). Stigma-Management und Devianz erscheinen damit tendenziell als sich ausschliessende Strategien. Das schliesst allerdings nicht aus, dass deviante Individuen stigmatisiert werden, es heisst bloss, dass sie aufgrund ihrer Devianz kein Stigma-Management betreiben müssen. 17. Goffmans Begriff von Devianz als eine gesellschaftlich funktionalisierte DevianzGoffman unterscheidet in Kapitel 5 zunächst zwei Arten von Devianz, die er als In-group-Abweichungen (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 173f.) und als soziale Abweichungen im Sinne von gemeinschaftlichen Abweichungen (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 175f.; S. 177f.) bezeichnet, und erwähnt gegen Ende des Kapitels zudem zwei weitere Arten respektive Gruppen, die diese weiteren Arten zeigen, nämlich die ethnischen/rassischen Monoritätengruppen sowie Mitglieder der unteren Klasse (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 178f.). Dazwischen erwähnt er weitere periphere Beispiele von Devianz (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 176f.). Goffman verbindet die Abfolge der vier Arten von Devianz mit einer zunehmenden Ausdehnung der Bezugsgruppe, gegenüber der das einzelne Individuum deviant werden kann, von der unmittelbaren persönlichen lokalen Gemeinschaft (erste Art, kw) auf die weitere Welt grosssstädtischer Ansiedlungen (zweite Art, kw) (Goffman (1963) 2016: S. 175) hin zur ganzen Kultur oder Gesellschaft (dritte und vierte Art, kw) (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 178 unten). Die erste Art von Devianz wird von Goffman als In-group-Abweichung bezeichnet und folgendermassen beschrieben:
Ein Grundproblem dieser ganzen Beschreibung des In-group-Abweichenden besteht darin, dass darin das von Goffman als zentral beschriebene Merkmal von Devianz, nämlich, dass das deviante Individuum an den Normen seiner Gruppe nicht festhält, nicht richtig vorkommt. Es mag durchaus sein, dass der Dorftrottel, der Kleinstadtsäufer oder der Regimentstrottel die Gruppennormen nicht einhalten, doch besteht die entscheidene Frage hinsichtlich Devianz darin, ob die Betreffenden die Normen nicht einhalten wollen, was Devianz wäre, oder ob sie die Normen nicht einhalten können, obwohl sie es wollen (weil sie vielleicht von der Gruppe auch willentlich daran gehindert werden), was dann eine normale Abweichung respektive eine Nötigung in Stigma-Prozesse wäre. Bei den angeführten Beispielen scheint eher Zweiteres der Fall zu sein. So gesehen kann bei ihnen - entgegen der Auffassung von Goffman - genau nicht von Devianz gesprochen werden. Zugleich erscheint die Goffmansche Beschreibung der In-group-Abweichungen so, als wenn sie funktional für den Bestand der Gruppe wären. Goffman stellt fest, dass der beschriebene Abweichende von der Gruppe ein spezielles Rollenspiel übertragen bekomme, und auch, dass er als Maskottchen der Gruppe fungiere und dass alles, was von der Gruppe gebraucht werde, eine solche Person sei. Tatsächlich ist es möglich, und die angeführten Beispiele sprechen dafür, dass die normalen Mitglieder der Gruppe den Abweichenden genau dazu benötigen, die Grenzen des Normalen abzustecken, das heisst zu klären, was innerhalb der Gruppe normalerweise noch geht und was nicht mehr geht. Der Dorftrottel, der Kleinstadtsäufer oder der Regimentstrottel sind funktional für den Bestand der Gruppe, und zwar zum Zweck der Aufrechterhaltung der normalen Standards. Sie bewegen sich hinsichtlich Einhaltung der Normen ständig gleichsam in der Schwebe, was für die von Goffman in Kapitel 4 beschriebene normale Abweichung typisch ist. Mit Devianz hat es aber nicht viel zu tun. Die zweite Art von Devianz wird von Goffman als soziale Abweichung bezeichnet und wie folgt beschrieben:
Auf den ersten Blick überraschend fasst Goffman die von ihm hier beschriebenen Formen von Devianz unter dem von ihm hervorgehobenen Begriff der sozial Abweichenden (zu verstehen als gemeinschaftlich Abweichende) zusammen. Er spricht bei diesen Deviationen von einer Art kollektiver Ablehnung der sozialen Ordnung. Am Schluss des Zitierten, wo er von der Nicht-Benützung der vorhandenen Gelegenheit für das Emporkommen in den verschiedenen bewährten Startbahnen der Gesellschaft spricht, berührt er auch fast ein wenig die Klassenfrage. Zu Beginn seiner Ausführungen beschreibt Goffman allerdings noch Formen von Devianz, die - ohne dass er selber dieses Attribut verwendet - als individuelle Ablehnungen der sozialen Ordnung zu bezeichnen sind. Hier spricht er von solchen Formen von Devianz, die sich den abweichenden Standpunkt auf eigene Faust zu eigen machen. Diese zuerst angeführte individuelle Form von Devianz, die mit Devianz vermutlich am meisten zu tun hätte, wird von Goffman empirisch aber nicht näher untersucht. Ihn interessieren vor allem kollektive Abweichungen, während er bei individuellen Formen rasch von Gruppen-Isolierten spricht (vgl. vorletztes Zitat), die ihm erst recht keiner Analyse wert zu sein scheinen. Wenn Goffman im Weiteren periphere Beispiele sozialer Devianz nennt (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 176f.), reibt man sich die Augen, reichen diese Beispiele doch von herumreisenden Reichen und im Ausland lebenden Amerikanern über grossstädtische Unverheiratete und Nur-Verheiratete bis zu glühenden Briefmarkensammlern, Tennisklubspielern und Sportwagenfans (vgl. ebda). Inwiefern man dabei noch von Ablehnungen der sozialen Ordnung oder nicht festgehaltenen Normen und also Devianz sprechen kann, ist schwer nachvollziehbar. Die herumreisenden Reichen zum Beispiel wollen ja nicht, dass niemand mehr regelmässig zur Arbeit geht, und sie stellen beispielsweise die Arbeitsnorm auch gar nicht in Frage. Andernfalls wäre ihr Reichtum rasch vergangen und sie würden auf ihrer Herumreiserei auch gar nicht mehr bedient. Und inwiefern die glühenden Briefmarkensammler, Tennisklubspieler und Sportwagenfans nicht an den sozialen Normen festhalten und also deviant sein sollen, wird erst recht nicht klar. Vielleicht halten sie sogar, abgelenkt durch ihr Hobby, nur umso mehr an den sozialen Normen fest. Die Intention Goffmans wird deutlicher, wenn er auf die Funktion hinweist, die die eben beschriebene zweite Art von Devianz (die abweichende Gemeinschaft) mit der ersten Art von Devianz (In-group-Abweichungen) theoretisch gemeinsam haben könnte:
Für Goffman erfüllen beide von ihm beschriebenen Formen von Devianz die Funktion, den Bestand der (normalen) Gemeinschaft (erfüllt durch den In-group-Abweichenden) respektive der (normalen) Gesellschaft (erfüllt durch die gemeinschaftlich Abweichenden) zu sichern. Nach Goffman - von ihm explizit so allerdings nicht gesagt - können sich die Normalen mit Hilfe der Abweichenden (und darin besteht dann ihre Funktion) darüber verständigen, was noch normal und was nicht mehr normal und im zweiten Fall abzuwerten ist. Auf diese Weise versichern sich die Normalen des Geltungsbereichs des Normalen. Diese Funktion dürfte primär mit Bezug auf abweichende Gruppenmitglieder, das heisst mit Bezug auf Individuen zum Tragen kommen, die zur Gruppe gehören und die Gruppennormen auch erfüllen wollen, denen dieses aber nicht recht gelingen will (normal Abweichende). Bei Devianten, welche an den Gruppennormen zum Vornherein nicht festhalten, dürfte dieses schwerer fallen. Auf jeden Fall scheinen in Goffmans Erläuterungen gar nicht - wie im Titel und in der Einleitung von Kapitel 5 angekündigt - Deviationen und Devianz im Zentrum zu stehen, sondern normale Abweichungen. Am Schluss von Kapitel 4 behandelt Goffman die allgemeine soziale Funktion von Stigma-Prozessen. Sie wurden hier noch nicht behandelt, doch sind sie auch im Zusammenhang mit der allgemeinen Frage der Funktion von sozialen Abweichungen von Bedeutung:
Es geht in diesem Abschnitt um die normal Abweichenden sowie um die als eine Teilgruppe darunter befassten stigmatisierten Individuen. Goffman beantwortet im zitierten Abschnitt die ansonsten in "Stigma" nicht behandelte Frage, welche allgemeine soziale Funktion die gegenüber diesen Abweichenden ablaufenden Stigma-Prozesse gesellschaftlich erfüllen. Auf die im Zitierten angeführten zusätzlichen Funktionen sei hier nicht näher eingegangen, da deren Diskussion zur hier behandelten Frage der Devianz nichts Zusätzliches beitragen würde. Wichtig hinsichtlich der Frage der Devianz ist die beschriebene allgemeine soziale Funktion der Stigma-Prozesse, die Funktion nämlich, unter jenen Unterstützung für die Gesellschaft zu gewinnen, die nicht von ihr unterstützt werden. Mit denjenigen, die nicht von der Gesellschaft unterstützt werden, sind wohl diejenigen gemeint, die nicht in der Lage sind, die sozialen Normen einzuhalten und deswegen dann als nicht unterstützungswürdig gelten. Um diese Abweichenden nun aber doch in der Gesellschaft zu halten, das heisst in den Worten von Goffman: unter ihnen Unterstützung für die Gesellschaft zu gewinnen, obwohl sie nicht von ihr unterstützt werden, straft man sie für ihre Abweichungen mit Beschämungen und Herabwürdigungen, was dann dasselbe meint wie die als erste zusätzliche Funktion angeführte soziale Kontrolle. Diese soziale Kontrolle der Abweichungen wirkt - wie oben an den In-group-Abweichenden bereits expliziert - immer auch zurück auf die Normalen selber, in dem Sinne eben, dass diese selber vermittels die laufenden Beschämungen und Abwertungen von Abweichenden erkennen können, was als normal drinliegt und was nicht (von Goffman so allerdings nicht beschrieben). Und zugleich sehen die normal Abweichenden sowie die Stigmatisierten sich gezwungen, in Reaktion auf die laufenden Beschämungen und Abwertungen Techniken zur Bewältigung beschädigter Identität, das heisst ein bestimmtes Stigma-Management anzuwenden. Die Abweichenden werden gezwungen, sich mit den Normalitätsforderungen der Normalen irgendwie zu arrangieren, was ja auch das Grundthema der Studie von Goffman ist. Zu diesen ganzen Techniken nun aber - so der grundlegende Einwand gegen Goffman - sind diejenigen nicht gezwungen, die an den von den Normalen ihnen gegenüber in Anschlag gebrachten sozialen Normen nicht festhalten, und das sind die Devianten. Diese erfüllen die allgemeine soziale Funktion, die Goffman zu Recht den normal Abweichenden und den (nicht devianten) Diskreditierten zuweist, insofern nicht, als von ihnen ja die von den Normalen in Anschlag gebrachten Normen bestritten werden. Den Devianten geht es nicht um die Frage der richtigen oder vollständigen Einhaltung von gesellschaftlichen Normen, sondern um deren Geltungsanspruch selber. Dieser steht zur Disposition. Auf die zweite und die dritte Art von Devianz geht Goffman nur noch kurz ein:
Auch hier liest Goffman die angeführten Kategorien - die ethnischen und rassischen Minoritätengruppen einerseits, die Mitglieder der unteren Klasse andererseits - nur wenig auf den Begriff der Devianz hin. Es wäre aber möglich. Man stelle sich Minoritätengruppen vor, die sich gegen die Normen der Gesellschaft stellen und abseits eine eigene Gesellschaft mit eigenen sozialen Normen bilden und sich dabei - wie es Goffman nachher in einem anderen Zusammenhang dann sagt - um ihre soziale Akzeptierung (in der normalen Gesellschaft, kw) nicht besonders kümmern (Goffman (1963) 2016: S. 179). Oder man stelle sich Mitglieder der unteren Klasse vor - was mit einem radikalen Begriff von Klasse am besten vereinbar wäre -, die sich weigern, ihr einziges, das sie besitzen, nämlich ihre Arbeitskraft, an die Kapitalbesitzenden zu verkaufen. Solches erst doch wiese auf wirkliche Devianz hin. 18. Was ist Devianz?Es wäre zu fragen, inwieweit bei gesellschaftlich funktionalisierter Devianz von Devianz überhaupt noch gesprochen werden kann. In der funktionalistischen Betrachtungsweise von sozialer Abweichung - wie sie von Goffman implizit vorgetragen wird - tut sich die analoge Schwierigkeit auf, wie sie insbesondere für die Konfliktsoziologie festzustellen ist. Soziale Konflikte werden immer gleich als funktional für den Bestand der Gesellschaft gedeutet, das heisst es wird angenommen, dass eine Gesellschaft in Bearbeitung der auftauchenden sozialen Konflikte sowie der Lösung der - wie sie dann genannt werden - sozialen Probleme sich nur umso besser fortentwickeln könne (vgl. dazu auch Kommentar K41). Dabei dann wird die Möglichkeit ignoriert, dass eine Gesellschaft durch Grundwidersprüche geprägt sein kann (z.B. infolge der Notwendigkeit der Naturbeherrschung und der daraus sich ergebenden Problematik der Beherrschung von Menschen durch Menschen), die sich nicht einfach so "lösen" lassen, sondern auf die gesellschaftlich nur reflektiert werden könnte und reflektiert werden müsste. Diese Reflexion nun aber wird in der funktionalistischen Betrachtungsweise von sozialer Abweichung oder von sozialen Konflikten systematisch ausgeschlossen. Die subkutan schwelenden gesellschaftlichen Grundwidersprüche, die immer aufs Neue soziale Konflikte bis hin zu Kriegen, Völkermorden usw. hervorrufen, geraten aus dem Blick. Wenn Goffman - wie gezeigt - Devianz als etwas für die Gesellschaft Funktionales deutet, dann unterliegt er dabei der analogen funktionalistischen Verdrängung der gesellschaftlichen Grundwidersprüche wie die Konfliktsoziologie. Die von ihm thematisierte Devianz-Forschung bildete sich zeitlich nicht zufällig parallel zur funktionalistischen Konflikt-Forschung heraus. Goffman vermag Devianz nicht auf die Grundwidersprüche der normierenden Gesellschaft zu beziehen, vermag nicht zu sehen, dass man von Devianz überhaupt erst nur sprechen kann, wenn in ihr dieser Bezug zum Ausdruck kommt. Bei Devianz geht es nicht um die Frage, wie sie in ein konfliktfreies Verhältnis zum Normalen zu bringen ist, sondern um die Grundproblematik des gesellschaftlich Normierenden, um die durch dieses verschleierten gesellschaftlichen Grundwidersprüche. Devianz wäre damit dann von normaler Abweichung dergestalt zu unterscheiden, dass das gesellschaftlich Normierende von ersterer als unhaltbar in Frage gestellt, von zweiterer aber funktional gestärkt wird. Goffman behandelt empirisch nur die normale Abweichung und bezeichnet diese in Kapitel 5 - so die hier formulierte Kritik - fälschlicherweise als Devianz. So sehr Goffman bestimmte Folgen des gesellschaftlich Normierenden problematisiert - nämlich dass dadurch Abweichung und Stigmatisierung von Abweichung recht eigentlich produziert werden -, so sehr funktionalisiert er eben diese Abweichungen als normale Abweichungen zugunsten jenes Normierenden oder Normalen. Für die grundlegende Problematik, dass das Normierende subkutan die ganzen gesellschaftlichen Grundwidersprüche mit sich schleppt und also auf es in dieser Hinsicht zu reflektieren wäre - was in der Devianz genau zum Ausdruck gebracht wird -, hat Goffman kein Sensorium. Wirkliche Devianz ist gesellschaftlich nicht funktionalisierbar. Mit seinen impliziten Hinweisen auf die Möglichkeit der gesellschaftlichen Funktionalisierung von Abweichungen weist Goffman allerdings auf einen zentralen gesellschaftlichen Mechanismus hin. Man kann es vereinfacht so erklären: Wenn die Gesellschaft tatsächlich eine von Grundwidersprüchen geprägte ist und innergesellschaftlich auf diese Grundwidersprüche jedoch nicht reflektiert werden darf, dann wird die Gesellschaft auch ganz praktisch - und nicht bloss theoretisch mittels einer funktionalistischen Devianz- und Konfliktforschung - dafür besorgt sein, dass diese Reflexion ausgeschlossen, und das heisst nun eben auch, dass Devianz ausgeschlossen wird. Dementsprechend versucht die Gesellschaft, jede Devianz umzudeuten in eine normale Abweichung, um die normale Abweichung dann mittels Beschämung, Herabwürdigung, Stigmatisierung sowie mittels problemlösender Institutionen funktionalisieren zu können, und zwar dann eben im Dienst des gesellschaftlich Normalen. Der hier nur angedeutete, zum normalen gesellschaftlichen Getriebe gehörige Mechanismus der Funktionalisierung sozialer Abweichung ist von Max Horkheimer in seiner Schrift Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (englisch: Eclipse of Reason (1947)) mit einer allerdings ganz anderen Terminologie - Horkheimer beschreibt es im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Instrumentalisierung der Revolte der Natur - bereits erklärt worden. Die Menschen verspüren die Grundwidersprüche und reagieren darauf immer wieder vermittels Devianz. Die Gesellschaft verwandelt eben diese Devianz mittels ihrer ganzen Institutionen und ihrer ganzen verwalteten Welt aber sofort in zu behandelnde normale Abweichungen, die ihrer immer reaktionärer werdenden Bestandserhaltung dann dienlich sind. Auch die ursprünglich devianten Individuen selber finden sich unvermittelt wieder als reaktionäre Mitläufer. Man denke an die heutigen sog. Protestparteien. Den bedrängten Menschen selber gelingt es nicht mal mehr, deviant zu werden. Wenn Devianz am ehesten mit Kriminalität in Verbindung gebracht wird, wäre anzumerken, dass auch die Kriminalität längst schon eine gesellschaftlich Funktionalisierte ist. Historisch dürfte sie zuerst aber als Devianz aufgetreten sein. Vielleicht gibt es die Devianz als ein den gesellschaftlich vorherrschenden Normen wirklich Entgegengesetztes und nicht bereits immer schon Funktionalisiertes und Instrumentalisiertes (was dann Devianz nicht mehr ist) zumindest in offener Form gar nicht mehr. Die von den Normalen zur Bestandserhaltung des Normalen erfolgende Erstickung alles Devianten hätte dann totale Gestalt angenommen. Unsere verwaltete Welt, für die keine Grundwidersprüche, sondern nur noch mittels der passenden Institutionen zu behandelnde Abweichungen existieren, spricht dafür. Erving Goffman geht in seinem Kapitel 5 begrifflich zwar von einer Devianz aus, die gegen die vorherrschenden Normen und Institutionen sich stellt (vgl. Goffman (1963) 2016: S. 172, im obigen Abschnitt 16 zitiert), doch findet er solche Formen von Devianz empirisch gar nicht mehr vor, sondern nur eben noch (funktionalisierte) normale Abweichungen. Er spürt es offenbar selber. Im Anfang von Kapitel 5 heisst es:
Goffman erklärt zum einen, dass alle Devianten nicht genug gemeinsam hätten, um sie als eine Ganzheit erforschen zu können. Wenn er freilich - wie im vorherigen Abschnitt zitiert - z.B. auch glühende Briefmarkensammler, Tennisklubspieler und Sportwagenfans dazu zählt, hat er sicherlich Recht. Dabei aber eben kann von Devianz wirklich nicht gesprochen werden. Zugleich kommt er wirklicher Devianz empirisch nicht nahe. Aber noch hier: Die gesellschaftliche Realität inklusive die angesprochene Forschung, die jede Devianz sofort geradezu wegintegriert, scheint ihm Recht zu geben. Das alles gilt jedoch nur, wenn man das gegen die Gesellschaft und deren Totalität sich stellende Individuum für sich nicht zu sehen bereit ist, oder besser, wenn man an die gegenüber dem Individuum total auftretende Gesellschaft glaubt und diese für das Ganze auch wirklich nimmt (hier treffen sich übrigens Soziologismus und Positivismus). Eine der enormen Einsichten von Imre Kertész, gewonnen aus der Reflexion auf seine in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald gemachten Erfahrungen besteht darin, dass das Individuum noch in der totalitärsten und damit hoffnungslosesten Situation sich doch als ein Eigenständiges, das heisst als ein gerade nicht durch jene Totalität vollständig Zugerichtetes erfahren kann, was dann sogar in absoluter Todesnähe - wie von Kertész aufgezeigt - einer Glücks-Erfahrung gleichkommen kann. Dieses Eigenständige ergibt sich nicht etwa durch Absonderung, sondern durch Reflexion auf die gemachten Erfahrungen mit dem Totalitären. Sie hat mit wirklicher Devianz sehr viel zu tun, sowie auch mit wirklicher Ich-Identität (welcher Goffman in seinem Kapitel 3 auch nur theoretisch, nicht empirisch nahe kommt). Demnach gibt es das deviante Individuum auch in der jede Devianz total wegintegrierenden Gesellschaft, dabei aber immer nur - so die hier zum Schluss formulierte These - als ein sozial isoliertes, ein am Rande oder in Nischen sich bewegendes oder auch z.B. als Narr verkleidetes Individuum. Dementsprechend kann es auch diskreditierte Personen geben, die auf ihre gemachten Erfahrungen mit der stigmatisierenden Gesellschaft kritisch reflektieren und es in der Folge vermittels Devianz schaffen, dem mühseligen Stigma-Management zu entgehen. Interessanterweise verweist Goffman auf dementsprechend deviante Individuen, ohne selber zu bemerken, dass es sich dabei um die - ansonsten von ihm empirisch nicht wirklich gefundene - Devianz handelt. Die entsprechenden Stellen finden sich denn auch nicht in Kapitel 5:
Mit dem einleitenden Hinweis Goffmans, dass mit den Strategien der sich Wehrenden die Situation und nicht die Person gefährdet werde, ist schon viel gesagt. Das Problem für diejenigen Personen, die von Fremden auf ihre Andersartigkeit angesprochen werden, besteht darin, dass diese Fremden den Gegensatz von normal - nicht normal mit ihren Fragen überhaupt erst statuieren und womöglich noch darauf 'herumtrampeln' wollen. Dabei spielt ein fehlendes Bein für die Interaktion gerade mit Fremden keine Rolle, braucht also gar nicht Thema zu werden. Im Gegenteil, etwas Persönliches des anderen, das für die Situation zudem keine Rolle spielt, in einer Interaktion unter Fremden zum Thema zu machen, ist absurd, doch will sich die fremde fragende Person alles andere als absurd, sondern - natürlich - als besonders normal vorkommen und vor allem darstellen. Das ist das Stigmatisierende. Diese für die diskreditierte Person bedrohliche Situation nun aber kann von ihr vermittels Devianz gesprengt, die Situation ihrer Absurdität überführt werden. Indem die deviante Person die Interaktions-Situation (Das Ich und sein Gegenüber) selber ganz zum Thema macht - den üblichen Positivismus kritisch noch überflügelnd -, rettet sie ihre eigene Person davor, in ein mühseliges, die Normalität bestätigendes Stigma-Management gezwungen zu werden. Das meint Devianz, dieses dann freilich mit allen Konsequenzen der sozialen Isolierung. Devianz kann es aber vermutlich in der sozialen Isolierung überhaupt nur noch geben. ______________________
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