K190 Erläuterungen mit und zu Adornos Aufzeichnungen zu Kafka
Teil 2: Die List von Franz Kafka

9. März 2019

... es sei mit dem 2. Teil fortgesetzt ...

Um direkt beim Ende des 1. Teils (vgl. Kommentar K189) weiterfahren zu können, sei nochmals das dort zuletzt angeführte Zitat aus Adornos Aufzeichnungen zu Kafka (Nachweis unten im gelben Kasten) wiedergegeben:

Ihm (Kafka; kw) ist die einzige, schwächste, geringste Möglichkeit dessen, dass die Welt doch nicht recht behalte, ihr recht zu geben. Wie der Jüngste im Märchen soll man ganz unscheinbar, klein, zum wehrlosen Opfer sich machen, nicht auf dem eigenen Recht bestehen nach der Sitte der Welt, der des Tausches, welcher ohne Unterlass das Unrecht reproduziert. (...) Kafkas Figuren werden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzulassen, in einem Augenblick des gesellschaftlichen Kampfes, in dem die einzige Chance des bürgerlichen Individuums bei der Negation seiner eigenen Zusammensetzung steht und der der Klassenlage, die es zu dem verdammt hat, was es ist. Gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mit den Deserteuren. (...) Die Versenkung in den Innenraum der Individuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet, stösst aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen, das die Philosophie sanktionierte (meint hier: bestätigte; kw), den mythischen Trotz. Wiedergutmachung wird gesucht, indem das Subjekt ihn fahren lässt. Kafka verherrlicht nicht die Welt durch Unterordnung, er widerstrebt ihr durch Gewaltlosigkeit. Vor dieser muss die Macht sich als das bekennen, was sie ist, und darauf allein baut er. Dem eigenen Spiegelbild soll der Mythos erliegen.
(Adorno (1953): S. 284f.)

Adorno spricht von der eigenen Zusammensetzung des bürgerlichen Individuums, das bei Kafka negiert, respektive von der Individuation, vom sich selbst Setzen, vom mythischen Trotz, das bei Kafka fahren gelassen wird. In diesem fahren lassen besteht denn auch die List wider den Mythos, die sich gemäss Adorno bei Kafka findet:

Nicht Demut hat Kafka gepredigt, sondern die erprobteste Verhaltensweise wider den Mythos empfohlen, die List. (...) Wie vor Jahrtausenden wird von Kafka Rettung gesucht bei der Einverleibung der Kraft des Gegners. Der Bann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem das Subjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll es vollziehen.
(Adorno (1953): S. 284f.)

Mit seinem Hinweis auf die Zeit vor Jahrtausenden spielt Adorno auf die mythische Frühzeit der alten Griechen an, wie sie beispielhaft in Homers Odyssee bezeugt ist. Die von Kafka aufgezeigte Verhaltensweise der List ist demnach derjenigen List analog, die Homer mit der Odyssee aufzeigte.

Die in der Odyssee demonstrierte List ist allerdings unmittelbar gegen die Verfallenheit der Menschen an die Natur gerichtet. Im Resultat der mit Odysseus aufgezeigten Überlistung der Naturkräfte konnte die Menschheit sich über die Natur erheben und naturbeherrschende Gesellschaften bilden. Dadurch freilich gerieten die Menschen in eine neuerliche Verfallenheit, nämlich in die sie verdinglichende Verfallenheit an die Gesellschaft. Georg Lukàcs bezeichnete die Gesellschaft dementsprechend als die zweite Natur, der die Menschen genauso verfallen sind wie sie dereinst der ersten Natur verfallen waren.

Nun besteht eine weitergehende, von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung entfaltete Einsicht darin, dass die gesellschaftlich errungene Herrschaft über die erste Natur zugleich und damit weiterhin auch die Verfallenheit an diese erste Natur bedeutet. Daran gerade, dass die Menschen die erste Natur beherrschen müssen, zeigt sich – negativ – die sich fortsetzende Abhängigkeit von ihr, das heisst die nicht gelingende Versöhnung mit ihr. Verfallenheit in zweite Natur und Verfallenheit in erste Natur sind deshalb gar nicht klar voneinander zu unterscheiden.

Das bedeutet auf den ersten Blick nun aber, dass die von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung mit Odysseus in Zusammenhang gebrachte und von Adorno in den Aufzeichnungen zu Kafka mit Kafkas Figuren in Zusammenhang gebrachte List ja gar keine gelingende zu sein scheint. Es kommt ja immer wieder zum Rückfall in Natur. Wenn in Kafkas Erzählung Die Verwandlung der junge Mann sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt sieht, ist es derselbe Sog zur Naturverfallenheit, wie wenn bei Homer die Gefährten des Odysseus durch die Erdgöttin Kirke in Schweine verwandelt werden. Und auch bei Odysseus selber zeigt sich der Rückschlag in Mythologie voll und ganz, wenn er die in seinen Augen zu freizügigen Mägde brutal hängen oder den Ziegenhirten Melanthios verstümmeln lässt, das heisst selbst sich wie eine Bestie gebärdet.

Der – von Horkheimer und Adorno zu wenig erhellte – Punkt ist nun aber der, dass die List zur List erst durch die Erzählung, durch den Bericht des Geschehenen sich vollendet. Das Gelingende der List, nämlich, dass der Rückfall in die Barbarei vermieden wird und man sowohl der ersten wie der zweiten Natur mit List zu begegnen und dann gar zu versöhnen vermag, ohne immer wieder auf sie zu regredieren, besteht in der Möglichkeit, sich auf die Regression zu besinnen, selbstbesinnend Zeugnis von ihr abzulegen. Horkheimer und Adorno weisen in der Dialektik der Aufklärung durchaus darauf hin, wenn wie gesagt zu wenig prominent:

Furchtbar ist die Rache, die Zivilisation an der Vorwelt übt, und in ihr, wie sie bei Homer das grässlichste Dokument im Bericht von der Verstümmelung des Ziegenhirten Melanthios gefunden hat, gleicht sie der Vorwelt selber. Wodurch sie jener entragt, ist nicht der Inhalt der berichteten Taten. Es ist die Selbstbesinnung, welche Gewalt innehalten lässt im Augenblick der Erzählung. Rede selber, die Sprache in ihrem Gegensatz zum mythischen Gesang, die Möglichkeit, das geschehene Unheil erinnernd festzuhalten, ist das Gesetz des homerischen Entrinnens. Nicht umsonst wird der entrinnende Held als Erzählender immer wieder eingeführt. Die kalte Distanz der Erzählung, die noch das Grauenhafte vorträgt, als wäre es zur Unterhaltung bestimmt, lässt zugleich das Grauen erst hervortreten, das im Liede zum Schicksal feierlich sich verwirrt. Das Innehalten in der Rede aber ist die Zäsur, die Verwandlung des Berichteten in längst Vergangenes, kraft deren der Schein von Freiheit aufblitzt, den Zivilisation seitdem nicht mehr ganz ausgelöscht hat.
(Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1944/1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fr.a.M.: S. Fischer (1969) 1986: S. 86)

Nicht der Inhalt der berichteten Taten allein macht die List, sondern der Selbstbesinnung ermöglichende Bericht erst vollendet sie. Die berichtende oder erzählende Person kann der Schriftsteller oder der selber innerhalb der Erzählung erzählende Held sein.

Im Berichteten selber ist für die List – was von Adorno in den einleitenden Zitaten hervorgehoben wird – zusätzlich Voraussetzung, dass die Gewalt sei es der ersten Natur, sei es der zweiten Natur sich voll durchsetzen kann, wodurch erst deutlich wird, wie furchtbar sie ist. Deshalb erscheinen bei Homer und bei Kafka die Helden wie der Jüngste im Märchen gegenüber der übermächtigen Gewalt klein und unscheinbar. So wie Odysseus bei Homer gegenüber dem Zyklopen sich als Niemand vorstellt, so erscheinen bei Kafka die Helden gegenüber dem System als Niemande und müssen jederzeit damit rechnen – und dieses Wort wird im Prozess auch gebraucht – durchgestrichen zu werden. Wesentlich ist, jene Gewalt ganz sich durchsetzen und so gewissermassen ins Leere laufen zu lassen, etwa so, wie Odysseus die Sirenen ins Leere laufen liess und wie Josef K. im Prozess den Prozess ins Leere laufen liess. Dazu freilich braucht der Held nicht unbedingt zu überleben.

Durch die Selbstbesinnung, die durch einen solchen Bericht ermöglicht wird, wird der mythische Trotz, den die berichteten Figuren zwischendurch durchaus zeigen mögen, soweit er vom System einberechnet ist, insgesamt fahren gelassen. Auf diese Weise lässt das System sich als das zeigen, was es ist, Mythos, und diesem mit dem Erzählten gezeichneten Spiegelbild muss es – wie Adorno es im Eingangs Zitierten formulierte – erliegen.

Kafkas Humor wünscht die Versöhnung des Mythos durch eine Art von Mimikry. Auch darin folgt er jener Tradition von Aufklärung, die vom homerischen Mythos bis Hegel und Marx reicht, bei denen die spontane Tat, der Akt der Freiheit, gleichkommt dem Vollzug der objektiven Tendenz.
(Adorno (1953): S. 285)

Hier wäre zu ergänzen: dem zur Selbstbesinnung nacherzählenden Vollzug der objektiven Tendenz. Die selbstbesinnende Distanz zum Vollzug – repräsentiert durch den Erzähler oder den Schriftsteller – wird von Adorno zu wenig hervorgehoben.

Es handelt sich um ein zum Zweck der Selbstbesinnung erzähltes Desertieren von der eigenen Psychologie ganz ins System hinein, und zwar eben mittels fahren lassen der psychischen Krücken, die einem das System bloss verblenden:

'Zum letztenmal Psychologie' (Eintrag von Kafka aus dem Nachlass; kw) – Kafkas Figuren werden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzulassen ...
(Adorno (1953): S. 285)

In der durch Selbstbesinnung ohne Psychologie sich vollendenden Versenkung in den Innenraum wird die Sinnlosigkeit des bürgerlichen Systems offenkundig und damit entlarvt. Im Prozess erwägt Josef K., selber eine Verteidigungsschrift zu verfassen (Psychologie!), tut es dann aber nicht. Ein solche Verteidigungsschrift hätte ins System gepasst (deshalb wird sie von Kafka erwähnt) und hätte auch das Leben von Josef K. verlängert, inhaltlich jedoch nichts weiter zur Aufklärung des Funktionierens des Systems beigetragen, sondern es nur in psychologischen Nebel verhüllt.

Kafka vollendet die Selbstbesinnung bis hin zu dem, was mit Adorno im 1. Teil des Kommentars als der Augenblick des Einstands bezeichnet worden ist. Es ist der Einstand des Bewusstseins mit der Feststellung, dass man selbst ein Ding ist. Wenn Kafka es zu diesem Einstand kommen lässt und ihn ausspricht, entlarvt er die Unwahrheit des bürgerliche Systems als – worauf ebenfalls im 1. Teil des Kommentars hingewiesen worden ist – das Negativ der Wahrheit. Wenn im Prozess Josef K. im Sterben sich noch sagt, dass er 'Wie ein Hund!" abgestochen werde, hebt er sich im Gleichen über das ihn tötende sinnlose System augenblicksweise heraus, entlarvt es als das, was es mit ihm macht. Solches vermag Gregor Samsa in der Verwandlung nicht mehr zu sagen, aber es steht bei Kafka geschrieben.

Prominent tritt die Bedeutung des Gesagten respektive Geschriebenen zutage in Kafkas ganz kurzer Erzählung Ein Traum, auf die Adorno ebenfalls hinweist (vgl. Adorno (1953): S. 286f.). In Ein Traum träumt Josef K., dass er zu einem Friedhof richtiggehend hingezogen wird und dass er dort vor einem bereits vorbereiteten Grab auf die Knie fällt. Kaum ist Josef K. hingefallen, stossen zwei Männer einen Grabstein in die Erde, der gleich wie festgemauert dasteht. Der restliche Teil der Erzählung sei hier wörtlich zitiert:

Sofort trat aus dem Gebüsch ein dritter Mann hervor, den K. gleich als einen Künstler erkannte. Er war nur mit Hosen und einem schlecht zugeknöpften Hemd bekleidet; auf dem Kopf hatte er eine Samtkappe; in der Hand hielt er einen gewöhnlichen Bleistift, mit dem er schon beim Näherkommen Figuren in der Luft beschrieb.
Mit diesem Bleistift setzte er nun oben auf dem Stein an; der Stein war sehr hoch, er musste sich gar nicht bücken, wohl aber musste er sich vorbeugen, denn der Grabhügel, auf den er nicht treten wollte, trennte ihn von dem Stein. Er stand also auf den Fussspitzen und stützte sich mit der linken Hand auf die Fläche des Steines. Durch eine besonders geschickte Hantierung gelang es ihm, mit dem gewöhnlichen Bleistift Goldbuchstaben zu erzielen; er schrieb: 'Hier ruht –' Jeder Buchstabe erschien rein und schön, tief geritzt und in vollkommenem Gold. Als er die zwei Worte geschrieben hatte, sah er nach K. zurück; K., der sehr begierig auf das Fortschreiten der Inschrift war, kümmerte sich kaum um den Mann, sondern blickte nur auf den Stein. Tatsächlich setzte der Mann wieder zum Weiterschreiben an, aber er konnte nicht, es bestand irgendein Hindernis, er liess den Bleistift sinken und drehte sich wieder nach K. um. Nun sah auch K. den Künstler an und merkte, dass dieser in grosser Verlegenheit war, aber die Ursache dessen nicht sagen konnte. Alle seine frühere Lebhaftigkeit war verschwunden. Auch K. geriet dadurch in Verlegenheit; sie wechselten hilflose Blicke; es lag ein hässliches Missverständnis vor, das keiner auflösen konnte. Zur Unzeit begann nun auch eine kleine Glocke von der Grabkapelle zu läuten, aber der Künstler fuchtelte mit der erhobenen Hand und sie hörte auf. Nach einem Weilchen begann sie wieder; diesmal ganz leise, ohne besondere Aufforderung, gleich abbrechend; es war, als wolle sie nur ihren Klang prüfen. K. war untröstlich über die Lage des Künstlers, er begann zu weinen und schluchzte lange in die vorgehaltenen Hände. Der Künstler wartete, bis K. sich beruhigt hatte, und entschloss sich dann, da er keinen andern Ausweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erste kleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, der Künstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äussersten Widerstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr so schön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blass und unsicher zog sich der Strich hin, nur sehr gross wurde der Buchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, da stampfte der Künstler wütend mit einem Fuss in den Grabhügel hinein, dass die Erde ringsum in die Höhe flog. Endlich verstand ihn K.; ihn abzubitten war keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Widerstand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war eine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit abschüssigen Wänden ein grosses Loch, in das K., von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, versank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zieraten über den Stein.
Entzückt von diesem Anblick erwachte er.
(Aus: Franz Kafka: Ein Traum)

Josef K. und der Künstler – so könnte eine Deutung des Traums gehen – repräsentieren zwei Momente des Schriftstellers Kafka. Kafka muss sich als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft aufreiben lassen, was in der Erzählung Josef K. gibt, und beschreibt diesen Prozess als Schriftsteller, was den Künstler gibt. Adorno spricht an einer Stelle zu Recht von Schizophrenie (vgl. Adorno (1953): S. 267). Die hier hervorgehobene List ist nur möglich dank dieser Schizophrenie, der Spaltung in den, der sich auf den Schrotthaufen wirft (Adorno (1953): S. 280), und in den, der eben dieses zum Zweck der Selbstbesinnung aufschreibt.

Adornos Auslegung von Ein Traum geht etwas anders. Bei ihm heisst es unmittelbar vor Zitierung des Schlusses des Traums:

Nach dem Zeugnis von Kafkas Werk befördert in der verstrickten Welt jegliches Positive, jeglicher Beitrag, fast könnte man denken, die Arbeit selbst, die das Leben reproduziert, bloss die Verstrickung. 'Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt: das Positive ist uns schon gegeben.' (Aphorismus von Kafka; kw) Heilmittel gegen die halbe Nutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, wäre einzig die ganze. So verbrüdert sich Kafka mit dem Tode. Die Schöpfung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Das Selbst, die innerste Position des Mythos, wird zertrümmert, verworfen der Trug blosser Natur.
(Adorno (1953): S. 286)

Und nach Zitierung des Schlusses von Kafkas Ein Traum schreibt Adorno:

Der Name allein, der offenbar wird durch den natürlichen Tod, nicht die lebendige Seele steht ein fürs unsterbliche Teil.
(Adorno (1953): S. 287)

Adorno spricht im Erstzitierten von der halben Nutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, und hält weiter fest, dass Heilmittel für Kafka einzig die ganze Nutzlosigkeit dieses nicht lebenden Lebens sei. Wenn dieses nicht lebende Leben der Tod ist, dann ist es folgerichtig, wenn Adorno weiter festhält, dass Kafka sich mit dem Tode verbrüdert. Unverständlich wird vor diesem Hintergrund dann aber der Satz: Die Schöpfung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Zum einen spricht er selbst ja doch eben vom nicht lebendigen Leben, was doch heisst, dass von einem Lebendigen genau nicht gesprochen werden kann. Wenn zum andern die Schöpfung, von der Adorno spricht, sich auf die Schrift auf dem Grabstein gemäss Kafkas Erzählung bezieht, dann gewinnt diese Schöpfung doch nicht den Vorrang über das Lebendige, sondern über das nicht lebendige Leben, das heisst über den Tod. Und es ist auch der Tod, den Kafkas Helden – wie der im Traum sterbende Josef K. – durch das gesellschaftliche System erleiden. Der Schriftsteller nun aber kann umso reiner die Wahrheit über das unwahre System sagen und schreiben, je konsequenter seine Helden durch das System aufgerieben und getötet werden. Deshalb kann der Künstler im Traum seine Schrift erst rein vollenden, wie Josef K. sich ins Grab gleiten lässt.

Adorno konzentriert sich in seiner Auslegung von Kafkas Ein Traum zu sehr auf den sterbenden Josef K. und dessen Namen auf dem Grabstein, zu wenig auf den schöpferischen Künstler. Dieser nämlich verweist, indem er die mit dem Namen von Josef K. aufs Engste verknüpfte Unwahrheit des Systems, das heisst das Negativ der Wahrheit benennt, auf das mögliche Freie und Lebendige.

... in vierzehn Tagen geht es weiter mit Teil 3 ...