K73 Nach Auschwitz Gedichte schreiben ...

2. Februar 2013

Kleine Korrektur vom 23.10.2013 (Titel von Adornos Schrift "Jene zwanziger Jahre" war nicht korrekt notiert)

Die auf diesen Seiten immer wieder versuchte Annäherung an die Lyrik legt es nahe, auf den von Adorno 1949/1951 formulierten Satz, wonach es nach Auschwitz nicht mehr möglich sei, ein Gedicht zu schreiben, näher einzugehen.

Im Jahr 1995 ist dazu ein verdienstvolles Buch herausgekommen, in welchem diverse Reaktionen auf den zitierten Satz von Adorno versammelt sind. Insbesondere sind darin auch verschiedene Passagen von Adorno zitiert, worin er auf den eigenen Satz Bezug nimmt.

Das Buch stellt die Basis dieses Kommentars dar.

Zunächst gilt es die Stelle zu zitieren, wo Adorno jenen später berühmt gewordenen Satz formulierte.
Je totaler die Gesellschaft, umso verdinglichter auch der Geist und umso paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äusserste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation. (Adorno 1949/1951, S. 30)
Adorno weist im zitierten Aufsatz auf das Grundproblem hin, wonach Kultur, Kulturkritik und auch Kunst derart der Totalität des gesellschaftlich negativ Bestehenden inhäriert, das heisst derart zu festen Momenten der gesellschaftlichen Grundlagen möglicher und sich realisierender Barbarei geworden sein können - und zwar sowohl in ihrer scheinbaren Abgehobenheit als auch in ihrem scheinbar kritischen Engagement -, dass sie nicht nur nichts vermögen dagegen, sondern im Gegenteil, selber Teil der Barbarei, selber barbarisch sind. Auch das Gedicht gehört hierher, freilich nicht nur es. Adorno dürfte sich im Zitierten deshalb auf das Gedicht bezogen haben, weil dieses am allermeisten als Antithesis zu Auschwitz erscheint. Es darf darob aber nicht übersehen werden, dass Adorno sich auf Kultur und Kulturkritik insgesamt bezieht, und auch gar seine eigene Erkenntnis ("die Erkenntnis, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben") nicht ausnimmt. Noch sie ist "angefressen" von jener negativen Totalität.

Anzumerken ist gleichzeitig, dass Adorno im zitierten Aufsatz und im Gegensatz zu der von ihm darin scharf kritisierten Kulturkritik eine "dialektische Kritik" durchaus für möglich hält: "Die Schwelle der dialektischen gegenüber der Kulturkritik aber ist, dass sie diese bis zur Aufhebung des Begriffs der Kultur selber steigert." (Adorno 1949/1951: S. 23) Dass solche Aufhebung auch im Gedicht als Möglichkeit drinsteckt, sah Adorno 1949/1951 allerdings noch nicht recht. Und es ist auch zu sagen, dass dementsprechend radikale Gedichte in der Folgezeit erst erschienen, nicht zuletzt geschrieben von Menschen, die die KZs der Nazis überlebt hatten.

Der Lyriker Hans Magnus Enzensberger entgegnete Adorno im Jahr 1959:

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einen Satz ausgesprochen, der zu den härtesten Urteilen gehört, die über unsere Zeit gefällt werden können: Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben. Wenn wir weiterleben wollen, muss dieser Satz widerlegt werden. Wenige vermögen es. Zu ihnen gehört Nelly Sachs. Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache. Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. Den Henkern und allem, was uns zu ihren Mitwissern und Helfershelfern macht, wird nicht verziehen und nicht gedroht. Ihnen gilt kein Fluch und keine Rache. Es gibt keine Sprache für sie. Die Gedichte sprechen von dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern. Das macht ihre rätselhafte Reinheit aus. Das macht sie unangreifbar. Wer aber hätte das Recht und die Kraft zu einem solchen Schweigen, der nicht selbst ein Opfer wäre? Solange die Mörder noch unter uns sind, müssen wir andern sie ausrufen; solange leben wir "in finsteren Zeiten", "wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst". So schrieb Bertold Brecht, der selber ein Opfer war. Die Erlösung der Sprache aus ihrer Verzauberung steht bei denen, die In den Wohnungen des Todes waren. Sie wissen es und können uns sagen, dass jene Wohnungen immer noch da sind, in uns. Sie wissen: "Ihr Finger, die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet, / Morgen schon werdet ihr Staub sein in den Schuhen Kommender!" Sie wissen auch: "Kein Heilkraut lässt sich pflanzen / Von Gestern nach Morgen ..."
Wer von uns darf trösten?
In der Tiefe des Hohlwegs
Zwischen Gestern und Morgen
Steht der Cherub
Malt mit seinen Flügeln die Blitze der Trauer
Seine Hände aber halten die Felsen auseinander
Von Gestern und Morgen
Wie die Ränder einer Wunde
Die offenbleiben soll
Die noch nicht heilen darf.
Nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer
Das Feld des Vergessens.
Wer von uns darf trösten?
Nur so ist Trost möglich, als Frage, als Dialog mit der Trostlosigkeit. Nur so kann Sprache zurückgewonnen werden, im Gespräch mit dem Sprachlosen. So hoch der Preis der Schönheit! " (Enzensberger 1959, zit. in Lyrik nach Auschwitz: S. 73f.)
Es war Hans Magnus Enzensberger, der das von Adorno Gesagte überhaupt erst bekannt machte. Von allen, die nachher zum Satz von Adorno Stellung nahmen (vgl. das zitierte Buch), bleiben die von Enzensberger gemachten Sätze die einzigen, die dem Satz Adornos wirklich und auf dessen Niveau Paroli boten. Enzensberger bestreitet den Hinweis Adornos auf jene totale Negativität nicht, hält aber fest, dass es eine Überlebensnotwendigkeit ist ("Wenn wir weiterleben wollen"), ihr auch und gerade mit dem Gedicht zu trotzen, was hinwiederum - Enzensberger erkennt die Hermetik der Negativität - überaus schwierig ist ("Wenige vermögen es").

Adorno nahm Enzensbergers Entgegnung im Jahr 1962 wie folgt auf:

Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt. Die Frage einer Person aus 'Morts sans sépulture' (Stück von Jean-Paul Sartre, Anm. kw): "Hat es einen Sinn zu leben, wenn es Menschen gibt, die schlagen, bis die Knochen im Leib zerbrechen?" ist auch die, ob Kunst überhaupt noch sein dürfe; ob nicht geistige Regression im Begriff engagierter Literatur anbefohlen wird von der Regression der Gesellschaft selber. Aber wahr bleibt auch Enzensbergers Entgegnung, die Dichtung müsse eben diesem Verdikt standhalten, so also sein, dass sie nicht durch ihre blosse Existenz nach Auschwitz dem Zynismus sich überantworte. Ihre eigene Situation ist paradox, nicht erst, wie man zu ihr sich verhält. Das Übermass an realem Leiden duldet kein Vergessen: Pascals theologisches Wort "On ne doit plus dormir" ist zu säkularisieren. Aber jenes Leiden, nach Hegels Wort das Bewusstsein von Nöten, erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die es verbietet; kaum wo anders findet das Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete. Die bedeutendsten Künstler der Epoche sind dem gefolgt." (Adorno 1962: S. 422f.)
Adorno verzichtet hier aber bereits auf den in seiner ersten Aussage gemachten Hinweis, es sei nicht mehr möglich, Gedichte zu schrieben, sagt vielmehr umgekehrt, dass das "Bewusstsein von Nöten ... die Fortdauer von Kunst (erheische)".

Im selben Jahr 1962 vermerkt Adorno zur Kunst nach Auschwitz, die an die zwanziger Jahre anknüpfen möchte, folgendes:

Die Kunstwerke werden dadurch, dass sie, nach der Emanzipation und allseitigen Aufbereitung ihres Materials, rein aus dem eigenen Formgesetz sich entwickeln, ohne alles Heterogene, potentiell zu einem Allzublanken, Ausgefegten, Gefahrlosen. Ihr Mentekel sind die Tapetenmuster. Das Leiden eben daran lenkt den Blick auf die zwanziger Jahre, ohne dass er doch die Sehnsucht befriedigte. Wer für solche Dinge ein Gefühl hat, braucht nur die Titel ungezählter Bücher, Bilder, Kompositionen der jüngsten Phase sich anzuschauen, um etwas ernüchternd Sekundäres zu spüren. So unerträglich ist es deshalb, weil jedes Werk, das heute entsteht, ob es will oder nicht, auftritt, als ob es einzig sich selbst zu verdanken wäre. Das im fatalen Sinn Gewollte, der Mangel am Zwang der Gebilde, da zu sein, wird ersetzt durchs abstrakte Bewusstsein dessen, was an der Zeit sei. Das spiegelt schliesslich den Mangel an politischem Bezug. Der Begriff des Radikalen, gänzlich ins Ästhetische transponiert, hat etwas von ablenkender Ideologie, vom Trost über die reale Ohnmacht der Subjekte. (...) Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig, und dafür hat jedes Gebilde, das überhaupt noch entsteht, den bitteren Preis zu bezahlen. Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewusstlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äusserste Grauen nachzittert. (Adorno 1962: 506)
Diese zweite Passage erinnert auch an das, was Adorno zum "Altern der neuen Musik" schrieb, einer Musik, die nicht mehr dem "Zwang der Gebilde" authentisch nachspürt, in deren Werken nicht "das äusserste Grauen nachzittert". Diese veraltete neue Musik dann hinwiederum ist festes Moment jener totalen Negativität geworden.

In der "Negativen Dialektik" dann (1966) nimmt Adorno seinen Satz, nach Auschwitz liesse sich kein Gedicht mehr schreiben, explizit zurück:

Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, dass er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Dass in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muss das Sterben auch derer affizieren, die der Massnahme entgingen. Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod. Das exponierteste Diktum aus Becketts Endspiel: es gäbe gar nicht mehr so viel zu fürchten, reagiert auf eine Praxis, die in den Lagern ihr erstes Probestück lieferte, und in deren einst ehrwürdigem Begriff schon die Vernichtung des Nichtidentischen teleologisch lauert. Absolute Negativität ist absehbar, überrascht keinen mehr. Furcht war ans principium individuationis der Selbsterhaltung gebunden, das, aus seiner Konsequenz heraus, sich abschafft. Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch aus diesem Schornstein in den Himmel dich schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten der Liquidatoren. Weil aber der Einzelne, in der Welt, deren Gesetz der universale individuelle Vorteil ist, gar nichts anderes hat als dies gleichgültig gewordene Selbst, ist der Vollzug der altvertrauten Tendenz zugleich das Entsetzlichste; daraus führt so wenig etwas hinaus wie aus der elektrisch geladenen Stacheldrahtumfriedung der Lager. Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz liesse kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, dass er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten. (Adorno 1966: S. 355f.)
Es behauptet sich - erlauben Sie mir, nach so vielen extremen Formulierungen, nun auch diese -, das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück. (Paul Celan, 1960)