K87 Imre Kertész' Kritik am oft zitierten Satz von Adorno: "Nach Auschwitz ein Gedicht schreiben, ist barbarisch"
Ein Angebot zur Schlichtung

26. Oktober 2013

Was für alle anderen "Kurzkommentare zur Zeit" gilt, ist hier besonders hervorzuheben. Es wird nachfolgend nicht etwa das 2006 publizierte Dossier K. von Imre Kertész besprochen, sondern nur eine kurze Passage daraus zitiert und kommentiert.

Das Dossier K. von Imre Kertész ist als ein Dialog konzipiert, worin dessen Freund und Lektor, Zoltàn Hafner, ihn interviewt. Die Grundlage des Dialogs geht auf Interviews aus dem Jahre 2003/2004 zurück, die von Kertész in Gstaad schlussredigiert wurden (vgl. Kertész 2006, S. 5).

Die hier interessierende Passage sei zuerst zitiert. Der Dialog dreht sich zunächst um eine Fabrik, in die Kertész 1951 infolge der "Regeln" der neuen Diktatur arbeiten musste (nachfolgend fett-kursiv: der Interviewer Zoltàn Hafner / kursiv: der antwortende Imre Kertész).

(Zur zusätzlichen Kenntlichmachung ist das Zitierte in kleinerer Schrift wiedergegeben.)

ZITAT

Kertész: ... Allerdings musste ich innerhalb von drei Monaten einen anderen Arbeitsplatz finden, wollte ich dem Paragraphen über die sogenannte "gemeingefährliche Arbeitsscheu" entgehen. Ich wurde Fabrikarbeiter. Es gab keine andere Lösung.

Hafner: Wie hiess die Fabrik?

MAVÀG.

Ein schrecklicher Name.

Nicht schrecklicher als die Fabrik selbst.

Dennoch scheint dein Text diese Schrecklichkeit zu verklären.

Verklären? Ich verstehe nicht, wie du das meinst.

Wenn du erlaubst, zitiere ich weiter: "... trostlose, nach gegossenem Eisen riechende Tagesanbrüche erwarteten mich, blinde Schichttage, an denen die dumpfen Wahrnehmungen des Bewusstseins wie schwere Metallblasen an die zinngraue Oberfläche einer dampfenden, schwadenverhangenen Masse aufblubberten und zerplatzten.

Was für ein Problem hast du mit diesem Text?

Dass ich ihn gern lese. Ja, geniesse. Während es in der Englischen Flagge doch um die Aporie geht, die Realität schreibend zu erfassen.

Es geht nicht nur darum, aber ich beginne zu verstehen, worauf du hinauswillst. Ich weiche dem Problem nicht aus. Ob es uns gefällt oder nicht, die Kunst betrachtet das Leben immer als Feier.

Als Karneval oder als Trauerfeier.

Als Feier.

Aber gerade in deinem Fall ist die Diskrepanz zwischen einem widerlichen Gegenstand und der feierlichen Verklärung auffallend.

Das ist nicht das Problem des Schriftstellers, sondern das des Moralisten. Der im Dichter einen Voyeur des Grauens sieht und ihm mit seinem Falsett verbietet, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben. Sind wir am richtigen Punkt?

Nach meiner Auffassung kommen wir, wenn wir über Kunst und Diktatur sprechen, nicht um Adornos Satz herum.

"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Aber warum sprechen wir im Zusammenhang mit der Englischen Flagge darüber, in der es zufällig gar nicht um Auschwitz geht?

In unserem Gespräch geht es auch nicht um Die englische Flagge, sondern um dein Leben, das du in deinem Werk immer wieder gestaltest. Warum? Schliesslich sagt du doch selbst: "Wozu die Erfahrung? Wer wird durch uns sehend? Zu leben, dachte ich, bedeutet, Gott eine Gefälligkeit zu erweisen."

Sagt der Erzähler der Englischen Flagge, der aber nicht zu verwechseln ist mit mir, der ich ihn sprechen lasse. Aber was hat das mit Adorno zu tun?

Dass du zwischen den Satz von Adorno und dein eigenes Schreiben ein überirdisches, metaphysisches Moment setzt; direkt ausgedrückt, dass du von Gott sprichst, wo Adorno allein die Schande sieht.

Du, das sind äusserst heikle Fragen ...

Gut, dann stelle ich sie einfacher: Was ist deine Antwort auf Adornos berühmten - oder berüchtigten - Satz?

Schau, ich habe viel aus Adornos Schriften zur Musik gelernt, als diese endlich auch in Ungarn erschienen, aber das ist schon alles. Mehr habe ich nicht von ihm gelesen.

Du beantwortest meine Frage nicht. Was hältst du von Adornos berühmtem Satz, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben?

Nun, wenn ich es ganz direkt ausdrücken soll, ich halte diesen Satz für eine moralische Stinkbombe, die die ohnehin schlechte Luft überflüssigerweise noch mehr verpestet.

Das ist zweifellos eine sehr direkte Formulierung. Würdest du sie begründen?

Ich kann nicht nachvollziehen, dass ein Geist wie Adorno annehmen kann, die Kunst würde auf die Darstellung des grössten Traumas des 20. Jahrhunderts verzichten. Sollen wir die Gedichte Celans oder Miklós Radnótis als barbarisch betrachten? Das ist ein schlechter Scherz, sonst nichts. Und was den ästhetischen "Genuss" angeht: Erwartet Adorno von diesen grossen Dichtern, dass sie schlechte Gedichte schreiben? Je mehr du diesen unglücklichen Satz drehst und wendest, desto unsinniger wird er. Für wirklich schädlich aber halte ich eine darin zum Ausdruck kommende Tendenz: Es drückt sich nämlich ein verqueres elitäres Denken darin aus, das im übrigen auch in anderer Form um sich greift. Was ich meine, ist, dass der Satz einen Alleinanspruch auf das Leiden anmeldet, den Holocaust gleichsam beschlagnahmt. Und diese Tendenz trifft sich seltsamerweise mit der Ansicht der "Schlussstrich"-Befürworter, also derer, die den Erfahrungsbereich Auschwitz für sich abweisen und eine eng begrenzte Gruppe von Menschen beschränken wollen und auch die Erfahrung selbst mit dem Aussterben der letzten Überlebenden der Konzentrationslager als tote Erinnerung, als ferne Geschichte betrachten möchten.

Als einen deutsch-jüdischen Antagonismus, den man durch die sogenannte Wiedergutmachung und die Errichtung von Mahnmalen letztlich als "erledigt und abgeschlossen" betrachten kann?

Das heisst als rein politische Frage, obwohl davon keine Rede sein kann. Das ist es ja gerade, was den Holocaust (bleiben wir bei dieser allgemein akzeptierten Bezeichnung) von jedem anderen Genozid unterscheidet. Ich sehe darin das einzige ernste Problem, über das zu entscheiden ist: ob die Erfahrung der Konzentrationslager im 20. Jahrhundert eine universale oder eine marginale Frage ist.

Wir wissen, dass du sie als eine universale betrachtest ...

In: Kertész 2006, S. 117-122 (siehe Nachweis im Kasten)

ZITAT ENDE

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Zitat von Adorno - ... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch ... (von Adorno geschrieben 1949, publiziert 1951) - in einem früheren Kommentar im Zusammenhang zitiert und die Debatte rund um die Intervention von Enzensberger beschrieben wurde (vgl. Kommentar K73, vom 2. Februar 2013) .

In jenem Kommentar wurde auch darauf hingewiesen, dass Adorno seinen Satz nachträglich und in mehreren Schriften zurücknahm, explizit 1966 mit dem Satz: Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz liesse kein Gedicht mehr sich schreiben. (Adorno, Nachweis vgl. in Kommentar K73)

Und an diesem Moment genau, das Adorno hier hervorhebt und dass er damals, als er jenen Satz formulierte, unbedacht liess, setzt die oben zitierte Kritik von Imre Kertész an. Warum soll das perennierende Leiden, für welches Auschwitz als Chiffre steht, nicht in Gedichten seinen Ausdruck finden können? Kertész formuliert es (wie eben zitiert) folgendermassen: Ich kann nicht nachvollziehen, dass ein Geist wie Adorno annehmen kann, die Kunst würde auf die Darstellung des grössten Traumas des 20. Jahrhunderts verzichten. Sollen wir die Gedichte Celans oder Miklós Radnótis als barbarisch betrachten? Kertész argumentiert analog wie Hans Magnus Enzensberger, der im Jahr 1959 als erster auf den Satz Adornos kritisch aufmerksam machte: Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einen Satz ausgesprochen, der zu den härtesten Urteilen gehört, die über unsere Zeit gefällt werden können: Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben (Enzensberger, Nachweis vgl. in Kommentar K73). Enzensberger zitierte damals gleichsam zum Gegenbeleg - analog zum Verweis von Kertész auf Celan oder Radnóti - ein Gedicht von Nelly Sachs. Anzumerken wäre, dass die Replik von Enzensberger etwas differenzierter ausfällt als jene von Kertész. So schreibt Enzensberger zum Gedichteschreiben nach Auschwitz auch: Wenige vermögen es. (Nachweis vgl. in Kommentar K73)

Zum Verständnis für Adorno wäre anzuführen, dass er jenen Satz in einem Aufsatz formulierte, in welchem er - vereinfacht gesagt - aufzeigte, wie sehr Kulturkritik dem verhaftet bleibe, was sie vorgeblich kritisiere, und zwar genau vermittels "kritischer" Abhebung von der Kultur. Adorno setzt der kritisierten Kulturkritik eine dialektische respektive eine gleichermassen transzendente wie immanente Kritik entgegen. Eine solche Kritik soll der Aporie oder Verlegenheit des Geistes, darin bestehend, in einer den Geist immer totaler verdinglichten Gesellschaft als Geist sich bewegen zu müssen, sich entwinden. Wenn unter "Gedicht" lediglich - hierbei argumentiert Adorno einseitig - eine Kritik im kulturkritischen Sinn fallen würde, das heisst eine Kritik, die sich einerseits der Kultur überhoben fühlt, damit implizit aber aus der kritisierten Kultur - nennen wir sie hier Auschwitz-Kultur - voll schöpft, dann wäre das Schreiben solcher "Gedichte" in der Tat barbarisch. Adorno dachte bei seinem Satz nur an solche "Gedichte", die aus einer - wenn man so will - in Wahrheit verdinglichten Position der Kontemplation heraus geschrieben sind: Je totaler die Gesellschaft, umso verdinglichter auch der Geist und umso paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äusserste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation. (Adorno, Hervorhebung durch kw, Nachweis vgl. in Kommentar K73)

Gedichte können aber eben auch etwas anderes sein als "selbstgenügsame Kontemplation".

Wenn Imre Kertész im oben Zitierten schreibt: Je mehr du diesen unglücklichen Satz drehst und wendest, desto unsinniger wird er, dann überrascht daran, dass Kertész die von Adorno zu Recht erhobene Kritik am schöngeistigen Überhobensein, welches genau der Beförderung des bestehenden Schlechten dient, als eine mögliche Wendung nicht erkennt oder anerkennt. Kertész beantwortet die Frage des Interviewers nach der Aporie, die Realität schreibend zu erfassen - mit der Kertész doch wohl in allen seinen Texten konfrontiert war und ist - respektive nach der problematischen Diskrepanz zwischen einem widerlichen Gegenstand und der feierlichen Verklärung (der Interviewer zitiert auch eine diesen Schein erweckende Textstelle von Kertész aus der Englischen Flagge) nicht wirklich. Solches - so stellt Kertész kurzangebunden fest - sei nicht das Problem des Schriftstellers, sondern das des Moralisten. Der Dialog läuft dann darauf hinaus, dass Kertész Adorno indirekt als das diffamiert, was er negativ als "Moralisten" bezeichnet, und er behauptet dann gar, Adorno habe mit seinem Satz eine "moralische Stinkbombe" gezündet. Aber auch Kertész hat für seine harten Worte starke Argumente.

Wenn Imre Kertész im "Roman eines Schicksallosen" - hier aus der Leseerinnerung des Kommentierenden wiedergegeben - den in Auschwitz ankommenden Jungen denken lässt, dass es ganz gut ist, dass da jetzt Uniformierte sind, die für Ordnung sorgen, dann hätte man den Schriftsteller in der Tat völlig missverstanden, wenn man jetzt - wie es in Reaktion auf den Roman wohl oft der Fall war - "moralisch" dagegen hielte und sagte: "Aber so was darf man doch nicht schreiben, da man doch wisse, was diese Nazis mit dem 'für Ordnung sorgen' beabsichtigten, und dieses hätte man benennen müssen ... usw." Genau dieses von Kertész zurecht verabscheute "Moralisieren" nimmt den Opfern - und das ist eine der wichtigsten von Kertész vermittelten Einsichten - nochmals gleichsam deren Leben, deren Schicksal, die selber gemachten Gedanken, selber gemachten Schritte (vgl. dazu auch Kommentar K58). Die Allergie, die Kertész gegen alles Moralisierende hegt, beruht auf Erfahrung.

Dem wäre beizufügen, worauf mich die in Tschechien aufgewachsene Soziologin Iva Sedlak aufmerksam machte (hab Dank!), nämlich, dass das Gedicht in den damaligen Diktaturen des Ostbereichs von allem Anfang an ein viel stärkeres Mittel der Dissidenz darstellte (natürlich gab es dort auch das funktionärsmässige Gedicht) als im Westen. Das Gedicht bot eine der wenigen Möglichkeiten, verklausuliert Kritik an der Dikatur zu üben (vgl. dazu auch Kommentar K74 rund um Marina Zwetajewa). Im Westen wird das Gedicht demgegenüber nicht zuletzt auch von angeblich kritisch Denkenden immer wieder und bis heute als etwas "Ideologisches" rundweg abgelehnt. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Auf jeden Fall dürfte der Aufschrei von Kertész gegen den Satz von Adorno sich auch aus der Erfahrung der eminent dissidenten Bedeutung des Gedichts in den Diktaturen des Ostbereichs und also auch in jener Ungarns erklären. Daran dachte wohl auch ein Adorno nicht - wie ablehnend dieser der Politik im Osten auch immer gegenüberstand.

Gemäss Kertész geht mit dem Moralisieren primär auch die Aufforderung einher: Bleib bei den sogenannten Tatsachen, dichte nicht! Und da Adorno sich gegen das Gedicht aussprach (in der Lesart von Kertész: dichte nicht!) ist für Kertész klar, dass auch Adorno hier moralisiert, und er führt den Gedanken dann gar noch weiter und identifiziert Adorno mit denjenigen, die unter Auschwitz einen "Schlussstrich" ziehen möchten. Auch diese von Kertész gezogene Konsequenz kann für sich insofern nachvollzogen werden, als aus der Aufforderung des "Dichte nicht!" tatsächlich die Aufforderung abgeleitet werden kann, ausser so genannten Tatsachenberichten (à la Spielberg u.a.) nichts mehr über Auschwitz zuzulassen. Das wäre dann in der Tat ein "Schlussstrich". Und zugleich verbände sich damit der von Kertész ebenfalls eingeklagte Alleinanspruch auf das Leiden. Allerdings: bereits der beim Zitieren immer weggelassene zweite Teil des Satzes von Adorno widerspricht dieser Deutung mit Bezug auf Adorno. Dieser schrieb in diesem zweiten Teil ja, wie oben bereits zitiert: ... und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Adorno bezieht jene Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, auch auf sich, formuliert sie als universales Problem.

Adorno verband mit seinem Satz nicht, was ihm von Kertész unterstellt wird, und dasjenige, was man aus dem Satz tatsächlich im Sinn von Kertész herauslesen kann, nahm Adorno - wie zitiert - 1966 explizit zurück. Es wäre Adorno nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen, das Ziehen eines "Schlussstrichs" überhaupt nur in Erwägung zu ziehen. Ganz im Gegenteil: Für ihn kann Analoges wie für Kertész gesagt werden, nämlich, dass alles, was er nach Auschwitz schrieb auch direkt oder indirekt mit Auschwitz zu tun hatte, und noch jener Satz Adornos wie auch jener ganze Aufsatz zur Kulturkritik bezeugt es. Wenn Adorno sich gegen das "Dichterische" wendet, steht er in Wahrheit an einem ganz ähnlichen Punkt wie Kertész, wenn dieser sich gegen das "Anekdotische" oder gegen das "Psychologische" wendet. Beide suchen nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die Erfahrung der Konzentrationslager im 20. Jahrhundert als das dargestellt werden kann, was sie ist, als eine universale Frage (Kertész). Es sei angemerkt, dass die von Adorno zusammen mit Max Horkheimer verfasste "Dialektik der Aufklärung" (1944) auch auf nichts weniger als auf dieses Universale hinaus will: Die universal sich durchsetzende Aufklärung führt zwangsläufig ins Verhängnis.

Imre Kertész weist im zitierten Dialog vorgängig darauf hin, dass er Adornos Schriften zur Musik las und daraus viel gelernt habe: Schau, ich habe viel aus Adornos Schriften zur Musik gelernt, als diese endlich auch in Ungarn erschienen, aber das ist schon alles. Mehr habe ich nicht von ihm gelesen. (Kertész, oben bereits zitiert) Kertész weist nicht darauf hin, was er aus Adornos Schriften lernte. Durch die Lektüre von Adorno (dem angeblichen "Moralisten") wurde Kertész in seiner - wenn man so will - antimoralisierenden Methode im "Roman eines Schicksallosen" bestärkt. Im "Galeerentagbuch" (ungarisch: 1992 / deutsch: 2002) schrieb Kertész:

1970. 26. DEZEMBER Weihnachtsmorgen. Erregt und unentschlossen. Ich benötige unbedingt eine Klärung und theoretische Untermauerung für das Romanschreiben. Was mich beschäftigt, ist: Durch die Lektüre Adornos sehe ich wieder völlig klar, dass die Technik meines Romans der Zwölfton- bzw. Reihentechnik, also einer integralen Kompositionsmethode, folgt. Sie verbietet freie Charaktere und die Möglichkeit einer freien Wendung der Erzählung. Die Charaktere sind hier thematische Motive, die innerhalb der Struktur der Totalität, welche von aussen her über den Roman herrscht, auftreten; jedes dieser Themen wird von der STRUKTUR nivelliert, jeder Anschein von Tiefe des Individuums zum Verschwinden gebracht; ausschliesslich in ihrer Beziehung zum kompositorischen Leitmotiv: zur Schicksalslosigkeit, können sich diese Themen "entwickeln" und variieren. Das gleiche gilt auch für die Erzählung selbst. Der Verlauf der Erzählung ist von vornherein durch die STRUKTUR festgelegt, Wendungen wie Fluchten, anekdotische Teillösungen, beruhigende oder phantastische Elemente und "Ausnahmen" können hier also nicht in Betracht kommen. Desgleichen entfällt die psychologische Bestimmung, die totalitäre STRUKTUR diktiert die Erzählung, und die Erhellung besteht in der Prüfung unseres Anteils am Zustandekommen dieser STRUKTUR. (Imre Kertész im "Galeerentagebuch", Nachweis vgl. im Kommentar K77)