K96 Wie das eigene Ich retten vor dem gesellschaftlichen Hineinfallen / vor dem Herausfallen aus der Gesellschaft?
Zu Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein"

22. März 2014

Die Ausgangslage des Romans ist die folgende: Der als Ich Sprechende machte eine bestimmte Erfahrung (vielleicht die, dass er sich selber abhanden kam), und nun sucht er zu dieser Erfahrung das Verständnis, die Geschichte.

Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu - man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein anderer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung ...
(Der Barmann ist es nicht)
(S. 11)

Der als Ich Sprechende folgt solchen Personen oder versetzt sich in solche Personen, von denen er erhofft, sie hätten die Geschichte zu seiner Erfahrung. Dabei interessieren ihn nicht diejenigen Erfindungen, die die Gesellschaft den betreffenden Personen überstülpen und die von diesen wiederholend nachgelebt werden - das langweilt ihn -, sondern diejenigen Erfindungen, die er auf der Basis von Vermutungen über die Personen selber macht, sich vorstellt mit gleichsam geschlossenen Augen.

Der als Ich Sprechende verfolgt zuerst Enderlin, hört und sieht mit an einer Abendgesellschaft, wo derselbige darauf angesprochen wird, dass er ja jetzt - wie der Zeitung zu entnehmen gewesen sei - einen Ruf nach Harvard bekommen habe. Gratulation von allen Seiten! Enderlin fürchtet sich jedoch vor Harvard und der dort zu spielenden Rolle, es passt nicht zu seinem Ich. Was macht er mit seiner Angst vor dem gesellschaftlichen Hineinfallen? Das interessiert den als Ich Sprechenden.

Er erzählt die Geschichte eines Gegenfalls zu Enderlin, wo einer ebenfalls die Bürde einer grossen Rolle nicht tragen kann, fast daran zerbricht, die Rolle dann aber doch annimmt, sogar glänzend ausfüllt, das Problem so löst, dass er seine gesellschaftliche Rolle ganz bewusst nur noch spielt, das heisst ohne an sie zu glauben, davon aber keiner Menschenseele erzählt (und sein Ich auf diese Weise einigermassen rettet). Es ist eine Vorstufe zu Gantenbein.

Enderlin wird krank, kann so die zu gebende Bestätigung nach Harvard hinauszögern. Im Spital erhält er versehentlich eine in Wahrheit nicht für ihn bestimmte Notiz, wonach seine Lebenserwartung nur noch ein Jahr betrage. Wie reagiert man auf eine solche Nachricht, wie reagiert Enderlin darauf? Zunächst der Albtraum vom Stecken bleibenden Pferd im granitenen Morgengrauen, die Angst vor dem Herausfallen aus der Gesellschaft. Der als Ich Sprechende deutet den Traum eher umgekehrt, als Abheben vom langweilig Gesellschaftlichen, sieht ...

im Tal, tiefunten, eine ferne Strasse, Kurven voll bunter Autos, die alle nach Jerusalem rollen (ich weiss nicht, woher ich das weiss!), eine Kolonne von bunten kleinen Autos, spielzeughaft ...
(S. 11f.)

Er stellt sich den Enderlin am Morgen vor ... wie er nackt wie Adam und allein (die Nachtschwester lehnte die Rolle der Eva ab) aus dem Spital flüchtet, durch die Rämistrasse, hinunter, bis ins Opernhaus. Von dort, jetzt notdürftig bekleidet mit einem Königsmantel, holen sie ihn ab. Harvard und alles damit Verbundene wären weg.

Es ist wie ein Sturz durch den Spiegel, mehr weiss einer nicht, wenn er wieder erwacht, ein Sturz wie durch alle Spiegel, und nachher, kurz darauf, setzt die Welt sich wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Es ist auch nichts geschehen.
(S. 17)

Viel später im Roman:

Das Erwachen (als wäre alles nicht geschehen!) erweist sich als Trug; es ist immer etwas geschehen, aber anders.
(S. 282)

Diesem anders kann man nur durch Vorstellungen, den auf Vermutungen basierenden Erfindungen auf die Spur kommen. Im Roman werden - von Frisch so nicht bezeichnet - physischer und sozialer (gesellschaftlicher) Tod als verwandt dargestellt. Tatsächlich kracht in beiden Formen die gesellschaftliche Welt, in welcher das Leben sich spiegelt, in sich zusammen. Und wenn man überlebt, ist es beide Male wie ein Erwachen. Wie die Erfahrung deuten?

Enderlin wird nicht sterben, sondern sich bestens in die Gesellschaft einfügen. Er wird sich auch - comme il faut - in Lila verlieben, mit ihr zum Paar werden.

Der als Ich Sprechende erzählt dem Barmann die Geschichte vom Milchmann, der ein Leben lang seine Arbeit, wie es von ihm erwartet wurde, verrichtet hatte.

"Das Ich, das dieser gute Mann sich erfunden hatte, blieb unbestritten sein Leben lang, zumal es ja von der Umwelt keine Opfer forderte, im Gegenteil", sage ich, "er brachte Milch und Butter in jedes Haus. Einundzwanzig Jahre lang. Sogar sonntags. Wir Kinder, da er uns oft auf seinen Dreiräderwagen aufhocken liess, liebten ihn." Ich rauche. Ich erzähle: "Es war ein Abend im Frühling, ein Sonnabend, als der Otto, seine Pfeife rauchend wie all die Jahre, auf dem Balkon seines Reiheneigenheims stand, das zwar an der Dorfstrasse gelegen war, jedoch mit so viel Gärtlein versehen, dass die Scherben niemand gefährden konnten. Nämlich aus Gründen, die ihm selbst verschlossen blieben, nahm der Otto plötzlich einen Blumentopf, Geranium, wenn ich nicht irre, und schmetterte denselben ziemlich senkrecht in das Gärtlein hinunter, was sofort nicht nur Scherben, sondern Aufsehen verursachte. Alle Nachbarn drehten sofort ihre Köpfe; sie standen auf ihren Balkonen, hemdärmlig wie er, um den Sonnabend zu geniessen, oder in ihren Gärtlein, um die Beete zu begiessen, und alle drehten sofort ihren Kopf. Dieses öffentliche Aufsehen, scheint es, verdross unseren Milchmann dermassen, dass er sämtliche Blumentöpfe, siebzehn an der Zahl, in das Gärtlein hinunterschmetterte, das ja schliesslich, wie die Blumentöpfe selbst, sein schlichtes Eigentum war. Trotzdem holte man ihn. Seither galt der Otto als verrückt. Und er war es wohl auch", sage ich, "man konnte nicht mehr reden mit ihm." Ich rauche, während mein Barmann angemessen lächelt, aber unsicher, was ich denn damit sagen wolle. "Nun ja", sage ich und zerquetsche meine Zigarette im Aschenbecher auf dem Zink, "sein Ich hatte sich verbraucht, das kann's geben, und ein anderes fiel ihm nicht ein. Es war entsetzlich."
(S. 46)

Es folgt die Geschichte des Pechvogels, der sich auf seine Rolle lebenslang festgelegt hatte, dann wider Erwarten in der Lotterie das Grosse Los gewann, darob aber so verwirrt war,

" ... dass er, als er von der Bank kam, tatsächlich seine Brieftasche verlor. Und ich glaube, es war ihm lieber so", sage ich, "andernfalls hätte er sich ja ein anderes Ich erfinden müssen, der Gute, er könnte sich nicht mehr als Pechvogel sehen. Ein anderes Ich, das ist kostspieliger als der Verlust einer vollen Brieftasche, versteht sich, er müsste die ganze Geschichte seines Lebens aufgeben, alle Vorkommnisse noch einmal erleben, und zwar anders, da sie nicht mehr zu seinem Ich passen -"
(S. 47)

Er müsste - nach dem Erwachen - alle Vorkommnisse noch einmal erleben, und zwar - das ist entscheidend - anders.

Der als Ich Sprechende nimmt auch selber Erlebtes als mögliche Geschichte. Sein einsames Zusammentreffen auf dem Piz Kesch 1942 als Schweizer Soldat mit einem Deutschen mit Karte und Leica. Der Mann redete vom Reich, war - möglicherweise - daran, für die Nazis zu rekognoszieren. Die beiden sprachen auf dem Gipfel nur kurz miteinander und gingen wieder auseinander. Die Frage des als Ich Sprechenden, ob er den Deutschen damals, auf dem Gipfel, nicht hätte über die vorspringende Platte hinunter stossen sollen. In der Nicht-Tat zeigt sich Spannendes.

Also ich dachte nicht mehr daran und erzählte nie von jenem blauen Sonntag auf dem Piz Kesch; es war zu lächerlich. Ich kam auch nie wieder auf den Piz Kesch. Trotzdem habe ich es, wie sich später zeigte, nicht vergessen, während ich so vieles, was ich wirklich getan habe, wirklich vergessen habe. Das ist merkwürdig. Es scheint, dass es vor allem die wirklichen Taten sind, die unserem Gedächtnis am leichtesten entfallen; nur die Welt, da sie ja nichts weiss von meinen Nicht-Taten, erinnert sich mit Vorliebe an meine Taten, die mich eigentlich bloss langweilen.
(S. 53f.)

Was heisst es, wenn das Ich nur noch in den gesellschaftlich reproduzierten Erfindungen lebt, sich selber gleichsam ständig wiederholend, ohne darauf empört zu reagieren - wie unbewusst auch immer und sei es auch nur mit Blumentöpfen -, vielmehr einfach weiter macht? Der als Ich Sprechende stellt es sich vor als die Hölle.

Ich stelle mir die Hölle vor: Ich wäre Enderlin, dessen Mappe ich trage, aber unsterblich, so, dass ich sein Leben, meinetwegen auch nur einen Teil seines Lebens, ein Jahr, meinetwegen sogar ein glückliches Jahr, beispielsweise das Jahr, das jetzt beginnt, noch einmal durchzuleben hätte mit dem vollen Wissen, was kommt, und ohne die Erwartung, die allein imstande ist, das Leben erträglich zu machen, ohne das Offene, das Ungewisse aus Hoffnung und Angst. Ich stelle es mir höllisch vor. (S. 112) Erfahrung ist ein Vorgeschmack davon, aber nur ein Vorgeschmack; meine Erfahrung sagt ja nicht, was kommen wird, sie vermindert ja nur die Erwartung, die Neugierde - (S. 114) Ich stelle mir vor: Zehn Jahre - Ich stelle mir vor: Da ruht Ihr nun also, ein Paar mit liebestoten Körpern allnächtlich im gemeinsamen Zimmer, ausgenommen die kurzen Reisen wie jetzt. (S. 121)

Mit Bezug auf Enderlin: Zwar also weiter leben, aber höllisch.

Zu Beginn des Romans wird der Abend eines Mannes in Gesellschaft kurz vor seinem überraschenden und schnellen Tod - vermutlich Herzinfarkt - beschrieben:

Ich stelle mir vor:
So könnte das Ende von Enderlin sein.
Oder von Gantenbein?
Eher von Enderlin.
(S. 8)

Infolge der sich schliessenden Spielräume für Neues gibt der als Ich Sprechende Enderlin auf:

Ich habe Enderlin aufgegeben. -
(Es gibt andere Leute, die ich nicht aufgeben kann, selbst wenn ich ihnen nur selten begegne oder nie mehr. Ich will nicht sagen, sie verfolgen mich in meiner Vorstellung, sondern ich verfolge sie, ich bleibe neugierig, wie sie sich in dieser oder jener Lage verhalten möchten, dabei unsicher, wie sie sich wirklich verhalten. Ihr wirkliches Verhalten mag enttäuschen, aber das macht nichts; es bleibt ihnen der Spielraum meiner Erwartung. Solche Leute kann ich nicht aufgeben. Ich brauche sie, und auch wenn sie mich übel behandelt haben. Das können übrigens auch Tote sein. Sie fesseln mich lebenslänglich durch meine Vorstellung, dass sie, einmal in meine Lage versetzt, anders empfänden und anders handelten und anders daraus hervorgingen als ich, der ich mich selbst nicht aufgeben kann. Aber Enderlin kann ich aufgeben.)
(S. 145)

Vorstellbar wäre, dass man es vermag, sich - als trautes Paar - von aussen zu sehen, wie im Spiegel bei einer Umarmung: 'der Mann da, der meine Frau umarmt, bin nicht ich, sondern ein anderer':

... und er konnte sich, von jenem Spiegel belehrt, ohne weiteres vorstellen, wie ein anderer sie umarmt, und sass daneben, keineswegs bestürzt, eher froh um die Tilgung seiner Person, eigentlich heiter: Er möchte nicht der andere sein. Zeitung lesend, während sie schlief und vielleicht träumte, was er sich von aussen vorstellte, war er eins mit seiner grossen Liebe. Sie hiessen Philomenon und Baucis: Das Paar.
(S. 211)

Der als Ich Sprechende wird die Vorstellung nicht durchhalten, auch sie verwerfen.

Mein Name sei Gantenbein.

Die Vorstellung, er bewegte sich durch die Gesellschaft als Blinder - mit Blindenausweis, Blindenstock, Armbinde, dunkler Blindenbrille -, ohne blind zu sein. Nicht einmal seine Frau Lila - so die auf Vermutungen basierende Erfindung -, wüsste von seinem Betrug. Doch sie würde auch ihn betrügen, mit anderen Männern, was er zwar durchaus wüsste - er ist ja nicht blind -, aber Lila ginge davon aus - und das ist der grosse Vorteil seiner Blindenrolle -, dass er die anderen Männer nicht sieht, das hiesse für ihn dann, auch nicht zu sehen braucht. Auf diese Weise verfiele er nicht dem Wahn, Lila sei "seine" Lila, bräuchte auf die anderen Männer nicht eifersüchtig zu werden.

Ich stelle mir vor: mein Leben mit einer grossen Schauspielerin, die ich liebe und daher glauben lasse, ich sei blind; unser Glück infolgedessen. Ihr Name sei Lila.
(S. 74)

Der als Ich Sprechende ist als Gantenbein also von der Verpflichtung zu sehen enthoben, das heisst davon, das Gesehene vor andern beschreiben zu müssen, mit den gesellschaftlichen Beschreibungen sich vergleichen zu lassen und darüber identifiziert, wiederholend identifiziert zu werden usw.

Er erfindet für Gantenbein Camilla Huber, jene Camilla Huber, welche den Gantenbein - als dieser noch nicht richtig mit seiner Blindenrolle vertraut war - am Rennweg beinahe mit dem Auto überfahren hätte. Bei ihr lässt er sich von da weg die Manicure machen. Sie nimmt ihm seine Blindheit nicht wirklich ab, so wenig sie den Männern, die sie in ihrem Gewerbe in der Regel anders bedient als mit Manicure, deren Geschichten abnimmt. Sie tut gegenüber Gantenbein aber so, als glaube sie ihm seine Blindheit.

Gantenbein erzählt Camilla während der Manicure Geschichten, die ihrerseits - so will es Camilla - wahr sein müssen: Wahr heisst, dass sie mit dem Ich und dessen Erfahrungen (seien es jenen des Gantenbein, seien es jene Camillas) in Verbindung stehen, nichts gesellschaftlich Larvenhaftes, sondern von aussen selber vermutet.

Wunderbar die Geschichte für Camilla, wo die Frau eines erblindeten Mannes, wie dieser eifersüchtig auf sie wird und sie verdächtigt und sie schlägt, derart reagiert, dass sie sich zwischendurch als eine andere zurecht macht, als diese andere zu ihrem Mann schleicht (er glaubt, es sei eine andere), um dann als diese andere von ihm doch wieder geliebt zu werden ...

Gantenbein berichtet Camilla seine Vermutung, dass seine Frau ihn mit einem anderen betrügt, er sich dessen aber nicht sicher sei.

"Eine solche Ungewissheit", sagt sie und blickt Gantenbein an, als wäre ich der einzige Mensch in seiner Lage, "das muss ja furchtbar sein!"
"Ist es", sage ich, "ist es."
Später dann, nach vollstreckter Manicure, die mit einem gemütlichen Cognac gefeiert wird, und nachdem ich bereits mein schwarzes Stöcklein genommen habe, kommt sie nochmals darauf zurück.
"- aber Sie sind sicher, dass Ihre Frau ein Verhältnis mit einem andern hat?"
"Keineswegs."
Camilla ist enttäuscht, als sei es deswegen keine wahre Geschichte, und scheint sich zu fragen, wozu ich es denn erzähle.
"Ich kann es mir vorstellen."
Das ist das Wahre an der Geschichte.
(S. 106)

Der als Ich Sprechende erlaubt sich den Scherz, sich Gantenbein als Reiseführer vorzustellen, derart, dass nicht dieser den Touristen erklärt, was es zu sehen gibt (das könnte Gantenbein als Blinder gar nicht), sondern die Touristen ihm, was sie sehen. Und mittels seiner Nachfragen lernen vereinzelte Touristen sogar, wirklich hinzusehen.

Der als Ich Sprechende lässt sich sogar selber von Gantenbein besuchen (als dessen alter Freund), von ihm sich zwingen, seinen an der Wohnungseinrichtung ersichtlichen neuen Reichtum, den Gantenbein ja nicht sieht, schamhaft zu verbergen. Dadurch sieht er selber - wie von aussen - seinen Reichtum als solchen erst richtig. Es geht um den wahren Blick (nicht Augenschein) von aussen darauf, wer man ist und wer die anderen sind. Dieser Blick wird beschämend besonders dann, wenn durch ihn klar wird, dass man bloss in gesellschaftlichen Erfindungen lebt, man sich in ihnen verloren hat.

Der blosse Augenschein - ein vom als Ich Sprechenden verwendeter Begriff, kritisch verwendeter Begriff - trügt.

Ich bin blind. Ich weiss es nicht immer, aber manchmal. Dann wieder zweifle ich, ob die Geschichten, die ich mir vorstellen kann (auf Vermutungen basierende Erfindungen, kw), nicht doch mein Leben (im Sinn der gesellschaftlich erlebten Erfindungen, kw) sind. Ich glaub's nicht. Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist.
(S. 283)

Es wäre hinter die gesellschaftlich reproduzierten und so erlebten Erfindungen zu sehen, das heisst: nicht Augenschein nehmen, sondern die Augen schliessen, Vermutungen anstellen. Die auf Vermutungen basierende Erfindung ist möglicherweise so wahr wie ein gutes Kunstwerk.

... Eifersucht als wirklicher Schmerz darüber, dass ein Wesen, das uns ausfüllt, zugleich aussen ist. Ein Traumschreck bei hellichtem Tag. Eifersucht hat mit der Liebe der Geschlechter weniger zu tun, als es scheint; es ist die Kluft zwischen der Welt und dem Wahn, die Eifersucht im engern Sinn nur eine Fussnote dazu, Schock: die Welt deckt sich mit dem Partner, nicht mit mir, die Liebe hat mich nur mit meinem Wahn vereint. (S. 244)

Gantenbein will von Lila betrogen sein, um zu spüren, dass sie nicht Teil seines möglichen Wahns, sondern Teil der Welt ist. Nur als das kann er sie lieben. Als Lila ihn - gegen Schluss - nicht mehr betrügt, ist es sofort auch vorbei mit ihrer gemeinsamen Liebe. Mit der Liebe wäre es auch vorbei, wenn Gantenbein seine Blindenrolle aufgäbe; der als Ich Sprechende probiert es aus: Und Gantenbein wird sofort eifersüchtig; ganz so, wie Svoboda auf Enderlin eifersüchtig wurde. Es ist auch schwierig, sich Lila anders als Schauspielerin vorzustellen, da nur eine Schauspielerin gesellschaftliche Erfindungen wie die vom trauten Zusammenleben mit Gantenbein wirklich spielen kann, und zwar eben auch dann noch, wenn ihr anderer Liebhaber unmittelbar daneben steht. Der als Ich Sprechende probiert alternative Berufe für Lila aus, muss sie aber alle verwerfen.

Lila ist doch eine Schauspielerin!
(S. 234)

Svoboda ist der erste Mann von Lila, von ihr verlassen wegen Enderlin. Svoboda war, was Enderlin wird. Wie reagiert er auf die Mitteilung von Lila, dass sie einen anderen sehr lieb habe? Wie gesagt eifersüchtig. Sie beantwortet Svobodas Eifersuchtsanfall mit dem Hinweis darauf, dass er sie nicht bloss als Frau sehen dürfe (sondern als jemand eigenständig mit der Welt verbundener). Hier liegt das Problem von Svoboda:

Das Ereignis, das ihn bewegt und das er klären möchte mit ihrer Hilfe, ist kein gemeinsames. Das ist ja das Befreiende daran, gerade das: Lila ist allein ...
Schweigen.
Draussen zwitschern die Vögel. "Lila", sagt er, "so sag doch etwas!"
(S. 209)

Die Unmöglichkeit nimmt ihren Lauf ...

Inzwischen ist es Donnerstag geworden, ja, aber noch immer fällt kein Vorhang; das Leben, das tatsächliche, gestattet ja nicht, dass man es überspringt, nicht um ein Jahr und nicht um einen Monat und nicht um eine Woche, auch wenn man ungefähr weiss, was folgen wird ...
(Ich möchte auch nicht Svoboda sein!)
(S. 210f.)

Der als Ich Sprechende sieht mehrere Möglichkeiten, wie Svoboda auf die Liebe "seiner" Lila zu Enderlin reagiert. Auch mit der vermeintlich besten wird er - so seine Vermutung - Lila nicht zurückbekommen.

Was würde der als Ich Sprechende tun, wenn er Svoboda wäre? Man weiss von ihm via Gantenbein, dass er mit seiner Frau seine Wohnung mit wertvollen Preziosen bestückte, also:

Ich würde mein Sturmgewehr aus dem Schrank holen, Armeegewehr, und mich auf den Bauch legen, vielleicht nochmals aufstehen, um die Jacke auszuziehen, ferner nehme ich die Pfeife aus dem Mund, bevor ich mich neuerdings auf den Bauch lege und dann den ersten Lader ins Gewehr drücke mit dem Daumen, alles wie gelernt, Verschluss zu, alles in Ruhe. Einen Augenblick lang, als ich das Gewehr nochmals niederlege, sieht es aus, als zögerte ich, als erkennte ich den Unsinn meiner Veranstaltung; aber ich lege das Gewehr nur nieder, weil mir die Hosen spannen, ferner muss ich meine Brille putzen, bevor ich das Gewehr entsichere, dann Kolben an der Wange, dann zielen - in aller Ruhe - beispielsweise auf die Louis-Quinze-Uhr. Erinnerst du dich? Weiss und rund wie eine Zielscheibe, Porzellan mit goldenen Zeigerchen: Tack! und Verschluss auf, damit die leere heisse Hülse herauspurzelt, hoffentlich verbrennt sie unsern Teppich nicht, Verschluss zu, wichtig ist ruhiges und regelmässiges Atmen, während ich ziele beispielsweise auf den venezianischen Spiegel, Druckpunkt, mein Auge mit gestrichenem Korn auf mein Spiegelauge, dann langsames Krümmen des Zeigefingers: Zirr! und wieder Verschluss auf, Verschluss zu, alles wie gelernt, nur keine Hast, während ich ziele - diesmal vielleicht auf den Hi-Fi-Lautsprecher, der immer noch Schubert spielt, Trio No. 1, und nicht mit dem Auge zucken, bevor man abdrückt: Pumm! (...) Aber ich bin nicht Svoboda.
(S. 235f.)

Der als Ich Sprechende möchte hinter die gesellschaftliche Fassade sehen. Dazu müsste er sie allerdings nicht gerade - auch mit präzisem Blick nicht - durchlöchern. Aber er ist ja nicht Svoboda.

Svoboda freilich bleibt - im Gegensatz zu Enderlin - interessant. Der spätere Blick von aussen auf Lila (eine fremde Passagierin) auf einem Schiff übers Meer.

Lila von aussen (...) Ist es so? Wer es so sieht, ist Svoboda. (...) Bin ich Svoboda?
(S. 260f.)

Svoboda arbeitet als Architekt fast so, wie der als Ich Sprechende seine Entwürfe verfertigt.

Und der als Ich Sprechende selber:

Oft gehe ich nur darum nicht in eine Gesellschaft, weil ich dabei sein werde, und wenn ich mich noch so still verhielte; es ist, sobald ich dabei bin, nicht die Gesellschaft, die mich interessiert, sondern eine Gesellschaft von Larven, die ich verschulde -
(S. 242)

Ich lechze nach Verrat. Ich möchte wissen, dass ich bin. Was mich nicht verrät, verfällt dem Verdacht, dass es nur in meiner Einbildung lebt, und ich möchte aus meiner Einbildung heraus, ich möchte in der Welt sein. Ich möchte im Innersten verraten sein. Das ist merkwürdig. (Beim Lesen der Jesus-Geschichte hatte ich oft das Gefühl, dass es dem Jesus, wenn er beim Abendmahl vom kommenden Verrat spricht, nicht nur daran gelegen ist, den Verräter zu beschämen, sondern dass er einer seiner Jünger zum Verrat bestellt, um in der Welt zu sein, um seine Wirklichkeit in der Welt zu bezeugen ...)
(S. 244)

Die Einbildung ist das Gegenteil von der Vorstellung, das heisst der auf Vermutungen basierenden Erfindung. Einbildung (vermittels gesellschaftlich reproduzierter Erfindungen) führt nicht in die Welt hinein, sondern aus ihr heraus. In die Hölle eben. Es ist dieses das gesellschaftliche Hineinfallen in die Hölle.

Der als Ich Sprechende erzählt von seiner Reise nach Jerusalem. Aber:

Alles bleibt Augenschein.
Gegen Abend, als ich hinunter fahre und in einer Kurve anhalte, um nochmals auf Jerusalem zurückzuschauen, sein Gemäuer im Gegenlicht, weiss ich nur, was ich bei meiner Ankunft schon gewusst habe, und als ich dann weiterfahre, bin ich entschlossen, nie davon zu erzählen. Später tue ich's doch.
(S. 141)

Mein Name sei Gantenbein!
(Aber endgültig.)
(S. 244)

Wenn der als Ich Sprechende zu seiner Erfahrung eine Geschichte sucht, dann hilft ein Augenschein in seiner ehemaligen Wohnung, in deren Wänden er vielleicht jene Erfahrung machte, zu der er die Geschichte sucht, nichts. Er müsste vielmehr die Augen schliessen.

Wenn er später verhört wird, wird ihm vorgeworfen:

"Sie erzählen lauter Erfindungen."
"Ich erlebe lauter Erfindungen."
"Schon", sagt er, "aber was ist wirklich geschehen in dieser Zeit und an den Orten, wo Sie gewesen sind."
Ich schliesse die Augen.
(S. 283)

Gäbe der als Ich Sprechende seine Geschichte, wenn er sie denn gefunden hat, dem ihm Verhörenden preis, wäre sie gesellschaftlich reproduziert. Er will aber genau davor sich retten, vor dem gesellschaftlichen Hineinfallen. Also muss der Roman ihr Geheimnis, wenn es sie denn gibt, bewahren.

So lässt sich auch vorstellen, dass einer ohne Geschichte aus dem Leben scheidet, das meint dann: ohne gesellschaftlich reproduzierte Geschichte.

Der als Ich Sprechende ertrank unversehens fast einmal im Meer.

Als ich ans Ufer watete, schämte ich mich. Dabei hatte mich niemand gesehen. Am Ufer, jetzt möglicherweise gesehen, tat ich, als suchte ich Muscheln. Um meine Erschöpfung nicht zu zeigen. Dann musste ich mich doch setzen. Ich ölte meinen Körper, Blick aufs Meer, Sonne, am Horizont der rauchende Frachter, ein blauer Mittag wie irgendeiner. Ich versuchte zu denken: Jetzt ersoffen sein? - und es fiel mir nichts dazu ein ... Ich ölte meinen Körper sorgsam, die Schultern und die Waden, die Schenkel auch und die Brust und die Stirne und die Arme und nochmals die Waden; links dudelte ein Radio, rechts lag das italienische Paar mit dem Harlekin-Ball, das sich ödete, "family-style".
(S. 224)

Später eine Geschichte für Camilla über einen Mann, der seinen Lebenswandel ändern möchte, was ihm aber nie gelingt. Dieser Mann liest eines Tages im Flugzeug seine eigene Todesanzeige. Tatsächlich wurde irrtümlich angenommen, er sei in seinem Wagen (in Wirklichkeit von einem anderen gestohlen und selbstmörderisch zu Schrott gefahren) bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. So wird er beerdigt. Er geht an seine Beerdigung, will sich zu erkennen geben, besinnt sich aber anders. Er geht noch in seiner leeren Wohnung vorbei (alle sind noch an der Beerdigung), geht dann weg, für immer.

Er stülpte seinen Regenmantelkragen auf, schaute an der Fassade empor, ging - Ausser dass er in der Küche versehentlich das Licht hatte brennen lassen, fand man keine Spuren von ihm; das Wasserglas auf dem Schreibtisch war nicht auffällig; sein Hausschlüssel lag im Briefkasten, was unerklärlich blieb ...
(S. 231)

Wer ist dieser Mann? Wer ist der als Ich Sprechende?

Zum Schluss noch eine Geschichte für Camilla, welche die Fortsetzung der vorherigen sein könnte. Es schwamm eine männliche Leiche die Limmat hinab. Es gelang der Polizei zunächst und trotz grosser Anstrengung nicht, die Leiche zu bergen. Nur den Sarg konnten sie bei der Helmhausbrücke gerade noch unter die verweste Leiche ins Wasser schieben. Der tote Mann schwamm davon, jetzt im Sarg, kopfvoran, die Limmat runter, wo er erst vom Wehr beim Draht-Schmiedli gestoppt wurde ...

" ... der offene Sarg stand ziemlich senkrecht aus dem gurgelnden Wasser, die Leiche lehnte drin."
Camilla machte ein Uh-Gesicht.
"Ja", sage ich, "so war das."
"Scheusslich!"
"Dabei hätte er's beinah erreicht", sage ich mit Blick auf meine Fingernägel, die wieder einmal in Ordnung sind, "beinah -"
"Was erreicht?"
"Abzuschwimmen ohne Geschichte."

P.S.

Im Schauspielhaus Zürich wird Frischs "Mein Name sei Gantenbein" momentan aufgeführt (Regie: Dušan David Pařízek; mit Lukas Holzhausen (Gantenbein), Miriam Maertens (Lila), Michael Neuenschwander (Enderlin), Siggi Schwientek (Svoboda)). Die Bühnenfassung wurde von Pařízek zusammen mit Roland Koberg erstellt. In dem vom Schauspielhaus zum Stück herausgegebenen Flyer findet sich folgende Beschreibung (kursiv):

Ein Mann sitzt in seiner Wohnung. Allein. Seine Frau hat ihn verlassen (Stimmt das wirklich? Und weiss er das wirklich? kw). Er fragt sich: Wie ist es dazu gekommen? (Wie soll es genau wozu gekommen sein? kw) Er steigt aus seiner Geschichte aus (Ist es nicht so, dass ihm die Geschichte zu einer (darum noch unbedingt unbestimmten) Erfahrung (Stichwort: Sturz durch alle Spiegel) gerade fehlt? kw) und gibt sich eine neue (Gibt er sich eine Geschichte? Sucht er sie nicht vielmehr? Und findet er sie überhaupt? kw). Nicht nur eine (Aha? Wozu aber mehrere? Füllen des "Kleider"-Schranks? "Multioption"? kw). "Er probiert Geschichten an wie Kleider" (Ja schon, aber wozu, Herrgott nochmal? kw) - jede Erfahrung eine neue Identität, eine neue Rolle (Erfahrung soll also mit Identität, Rolle verbunden sein. Der Mann machte ja aber genau eine Erfahrung, zu der er die Geschichte nicht hatte, Herrgott nochmal! Identität; Rolle; geht das überhaupt mit wahrer Geschichte zusammen? Was hier als beantwortet vorausgesetzt wird, ist gerade die (dann übrigens eher negativ beantwortete) Frage von Frisch! kw). Keine Geschichte von Anfang bis Ende, stattdessen ein Kaleidoskop von Erfahrungen, Erlebnissen, Entwürfen - ein Leben im Konjunktiv (Keine Geschichte von Anfang bis Ende? Wirklich nicht? Bloss "Multioption"? Und noch dies: Der Konjuktiv (Entwurf) verweist bei Frisch auf die Wahrheit, nichts weniger! Wie kann man Max Frisch nur derart unterschätzen? kw).

Das Problem: Die Bühnenfassung von Pařízek erzählt eine andere Geschichte als Max Frisch sie mit dem Roman erzählt. In der Bühnenfassung geht die Verbindlichkeit der auf Vermutungen gegründeten Erfindungen - im Roman genau gewährleistet durch den als Ich Sprechenden - verloren. Im Roman werden Entwürfe nicht einfach durchgespielt, sondern verbindlich entweder exlizit verworfen (Enderlin), provisorisch weiter geführt (Svoboda) oder explizit akzeptiert (Gantenbein): Mein Name sei Gantenbein. Es ist nicht einfach mal so oder so oder dann halt mal anders. Wie gesagt: Die Verbindlichkeit stellt im Roman der als Ich Sprechende her (um diesen geht es im Roman ja! Er sucht zu einer Erfahrung eine Geschichte und findet diese nicht in den gesellschaftlichen Erfindungen). Der als Ich Sprechende wird in der Bühnenfassung von Pařízek aber eben gar nicht besetzt. Selbst ein ichloses Ich ist ein Ich (bei Frisch gar ein um sein Leben kämpfendes!) und müsste unbedingt besetzt werden. Der Riss (ein im Roman verwendeter Begriff!), der im Roman durch Enderlin geht (als dieser mit seiner Masche des sich Verliebens loslegt), sodass der als Ich Sprechende plötzlich vom "fremden Herrn" redet, kann die Bühnenfassung überhaupt nicht zeigen (weil eben der als Ich Sprechende nicht besetzt ist). Jetzt zu behaupten, das Ich sei halt in jedem der drei Männer mitenthalten, hilft nicht. Ohne den als Ich Sprechenden (er sitzt in der leeren Wohnung und nur er allein) läuft das Stück notwendig in Richtung postmodernes "Kaleidoskop" (siehe oben die zitierte Ankündigung des Schauspielhauses), was von der Kritik folgerichtig - natürlich! - als getroffener "Kern unserer Multioptionsgesellschaft" und als "verblüffende Modernität des Autors" gelobt wird (NZZ am Sonntag).

Es findet sich im Stück eine Kritik am auch im Roman behandelten Wahn der Zweierbeziehung. In der Inszenierung streifen sich an einer Stelle alle drei Männer das gelbe Kleid der Lila über, in der jeweiligen Überzeugung, dass die Frau, mit der sie leben, "ihre" Lila sei. Die Idee, den Wahn so darzustellen, wäre an sich gut (wobei fraglich ist, ob sie von den Zuschauern verstanden wird ohne reflektierendes Ich), doch wird damit die Pointe des Romans übergangen, wonach Gantenbein dem Wahn gerade nicht verfällt (nur ausnahmsweise in einem vom als Ich Sprechenden jedoch wieder zurückgenommenen Entwurf), wonach Enderlin dem Wahn clever aus dem Weg geht (Philomenon und Baucis), und nur Svoboda ihm und damit der Eifersucht verfällt (wobei offen bleibt, wie Svoboda weiter lebt; dieser ist gegen Schluss des Romans ja dann in der Lage, Lila von aussen zu sehen ...). Das Piaf-Lied ("Je ne regrette rien"), in der Inszenierung - wiederum gar nicht schlecht - kritisch eingesetzt (die meisten Zuschauer dürften beim Lied allerdings eher geschwelgt haben), gehörte eindeutig zum vom als Ich Sprechenden aufgegebenen Enderlin (das Lied wird im Roman erwähnt, als dieser feiert, dass er nach einem Jahr nun doch nicht - wie ihm vermeintlich vom Arzt vorausgesagt - an seiner Krankheit gestorben ist, er im Übrigen - so ginge wohl die Auslegung - auch nichts zu bereuen habe). Es ist nicht einsichtig, weshalb das Lied in der Inszenierung von Svoboda gesungen wird? Es passt auch gar nicht zu diesem. Die im Roman scharf gezeichneten Erfindungen verschwimmen in der Inszenierung (wie beim Kaleidoskop: bitte nach Belieben schütteln). Es kam in der Inszenierung nicht nur der als Ich Sprechende nicht vor, auch der von diesem bevorzugte Gantenbein (als Blinder Sehender) fast nicht, und also kamen auch dessen wahren Geschichten für Camilla Huber nicht vor, kam Camilla Huber nicht vor. Das kann keine Geschichte ergeben!