K97 Es gab einen Ort ...
Zum Roman "Die erste Welt" von Jürg Amann

5. April 2014

Der letzte von Jürg Amann, dem im Jahr 2013 zu früh verstorbenen Schriftsteller, verfasste Roman handelt von der ersten Welt. Mit der ersten Welt meint Amann die Welt der Kindheit. Er widmet seinen Roman seinem Bruder, mit dem zusammen er die Kindheit durchlebte.

"Die erste Welt" spielt im Vorort einer grösseren Schweizer Stadt. Der Zufall will es, dass der hier Schreibende - 12 Jahre jünger als Amann - ebenfalls in jenem vom Autor beschriebenen Vorort aufwuchs, die Verhältnisse dort zwar etwas später, aber auch als Kind ganz ähnlich wie der Autor durchlebte. Der Schreibende besuchte wie vor ihm der Autor dasselbe Primarschulhaus, streunte durch dieselben Strassen und Wälder, ging im selben Schwimmbad schwimmen, kaufte in denselben Geschäften ein, nahm denselben Bus Nr. 1 in die Stadt usw.

Die dem Roman vorangestellten Sätze sind sibyllinisch:

Die Welt, die man vorfindet, wenn man auf die Welt kommt, ist die Welt. Die erste und einzige. Es hat jeder nur diese. Wenn diese Welt zerstört ist, ist die Welt zerstört. (Amann, S. 5)

Es stellen sich Fragen: War die erste Welt, in die der Autor geboren wurde, schon eine zerstörte und also auch die Welt schon eine zerstörte? Oder wurde die erste Welt erst zerstört im Verlauf des Lebens, als der Autor erwachsen wurde, dann, als dessen mit jener Welt verbundenen Träume und Ideale - vielleicht - wie Seifenblasen zerplatzten? Oder möchte der Autor mit den Sätzen die enorme Bedeutung der ersten Welt mit dem Hinweis darauf hervorheben, was wäre, wenn eben diese erste Welt zerstört wäre, dass die Welt an sich zerstört wäre?

Die Welt, in der der Ich-Erzähler in Amanns Roman aufwuchs und in der auch der hier Schreibende aufwuchs, war eine durch und durch kleinbürgerliche. Dieses Kleinbürgerliche vermittelte den darin Aufwachsenden eine enorme Geborgenheit, weil man wirklich ganz dazu gehörte. Man wuchs in einer mindestens äusserlich intakten bürgerlichen Familie auf, was hiess, dass der Vater einer festen und ungefährdeten Lohnarbeit nachging, die Mutter sich fast ausnahmslos um Kinder und Haushalt kümmerte, und die Kinder die fest vorgezeichneten Schulen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern durchliefen. Man lebte in der Vorstadt und doch in einem "Dorf" - der Kern jener Vorstadt wurde tatsächlich als "Dorf" bezeichnet - auch in dem Sinn, dass man sich - wie es die Redensart sagt - kannte. Und diejenigen, die dazu gehörten, stützten sich wirklich auch gegenseitig.

Wie jedes Kleinbürgerliche hatte auch das jener Vorstadt seine Kehrseite, seine verdrängte dunkle Seite, die recht zu erkennen den darin Aufwachsenden verwehrt blieb, von vielen Kindern wohl doch gespürt wurde. In Amanns Roman ist diese Kehrseite zwischen den Zeilen und ohne Worte geradezu herausgeschrien, auch wenn der Autor - im Gegensatz zum hier Schreibenden - nichts analysiert. Amann wurde Schriftsteller, der hier Schreibende Soziologe. Amann, der seine Dissertation über Kafka schrieb, beschrieb die Welt - mindestens im hier angezeigten Buch - wie aus der Innenperspektive einer Figur Kafkas.

Es ist alles wunderbar: Als Kinder füllten wir den Eimer mit der Milch, die wir beim Schwingen des Kessels ausgeschüttet hatten, beim Brunnen mit Wasser nach ... jenem Brunnen, in dem einmal ein kleiner Junge ertrank.

Es ist alles wunderbar. Als Kinder spielten wir bei der Stadlerstrasse, rannten hin zur Wiese beim Schulhaus Guggenbühl, zum "Zellweger" usw. ... bei jener Stadlerstrasse, auf der oft schon Kinder von Autos angefahren wurden ("unters Auto kamen").

Es ist alles wunderbar. Als Kinder durften wir das Pferd des Gespanns streicheln, dass den Familien Gemüse und Obst lieferte, ... jenes Pferd, das dann später die Rychenbergstrasse hinunter galoppierte, vom Wagen, dem die Bremsen versagten, vorwärts gestrieben, das unten bei der Mündung in die Stadlerstrasse die Kurve nicht kriegte, in die Scheiben des Ladens Konkordia stürzte, sich den Hals aufschnitt, jämmerlich verblutete.

Es ist alles wunderbar. Das Schwimmbad mit den drei Sprungtürmen (zuerst vom ersten, noch in Nähe Bassinrand, später vom zweiten, später vom dritten (= drei Meter), hier dann gar auch kopfvoran ("Chöpfler")), ... es kam einmal einer bei einem solchen Sprung ums Leben. Wasser kann, so schreibt Amann, hart sein wie Beton.

Es ist alles wunderbar. Im "Dorf" reihte sich ein Kleinbetrieb an den anderen, der Milchladen, der Zigarrenladen, der Coiffeur Maag, eine richtige Schmiede sogar (bei jenem Brunnen), ... bis ein Laden nach dem andern zumachte und der Milchmann auch die Milch nicht mehr brachte, wir Kinder sie mit dem "Milchchesseli" abholen mussten, es bald aber auch das nicht mehr gab ... es kamen die Migros und der Coop mit ihren Filialen.

Zwischen den Zeilen: In jener Vorstadt konnte man jederzeit "abgeholt" werden, so wie Herr K. zu Beginn von "Der Prozess", an einem Morgen und ohne etwas "gemacht zu haben", verhaftet wurde.

Jürg Amann sagt es so nicht, er beschreibt es "nur" aus der Innenperspektive, ganz so eben, wie er es und wie auch der hier Schreibende es als Kind erlebten. Der Ich-Erzähler kam auch fast mal unter ein Auto auf der Stadlerstrasse (Ammann nennt den Namen der Strasse nicht), hatte Glück respektive - wie man damals sagte - einen Schutzengel. Auch der hier Schreibende hatte ein paar Mal einen Schutzengel.

Aber war man in jener Vorstadt wirklich in Schutz oder erschien es nur so. War es eine zerstörte Welt hinter einer riesigen Fassade, ein Potemkinsches Dorf?

Das Verrückte am Kleinbürgerlichen besteht nicht darin, dass es darin zu Unglücksfällen kommt - in jeder Welt kommt es zu Unglücksfällen -, sondern dass die Geschichten rund um die Unglücksfälle wie wahnsinnig herumerzählt werden. Dies muss so sein, hat seine Funktion, nämlich die der inneren Stabilisierung, der gegenseitigen Versicherung, dass man im Gegensatz zu jenen anderen Unglücklichen, nicht abgeholt wurde, man also ohne Schuld ist und mit Recht dieser scheinbar intakten Welt angehörte. Jene anderen nämlich hatten - so die implizite Botschaft - zu wenig aufgepasst, waren schuldig, ohne Schutzengel (und Punkt).

Was aber ist das hinter der Fassade des Kleinbürgerlichen unablässig wirkende Zerstörerische, das mit Hilfe von jenen Unglücksgeschichten verdrängt sein will? In der kleinbürgerlichen Welt soll das Ich sich gar nicht recht entwickeln können dürfen, es soll dazu niedergehalten werden, im Beziehungsgeflecht des Bestehenden demütig die zugewiesene Rolle zu spielen, was immer auch komme. Und solange man - im Unterschied zu jenen andern - nicht abgeholt ist, hat man glücklich zu sein.

Jürg Amann nannte einen Ort, wo der Ich-Erzähler als Kind glücklich war, wo auch der hier Schreibende glücklich war. Es war jeweils im Schwimmbad, beim tiefen Tauchen unter Wasser, dort, wo man die Geräusche der Vorstadt nicht mehr hörte und es war, als wäre man wirklich in einer anderen Welt, dort, wo einen niemand erkannte ...