K98 Was ist kritische soziale Arbeit?

19. April 2014

Angesichts der akuten Krise, in welcher die soziale Arbeit sich gegenwärtig befindet, stellt sich verstärkt die Frage nach einer kritischen sozialen Arbeit. In Reaktion auf die Krise wurden in verschiedenen Städten auch der Schweiz Gruppierungen, Bewegungen oder Foren gegründet, welche die Förderung einer kritischen sozialen Arbeit zum Ziel haben. An einzelnen Fachhochhochschulen werden neu Wahlpflichtmodule zur kritischen sozialen Arbeit angeboten.

Was aber ist kritische soziale Arbeit?

Es wären zwei grundlegende Verständnisse von kritischer sozialer Arbeit zu unterscheiden, nämlich einerseits eine kritische soziale Arbeit als eine kritische Theorie der sozialen Arbeit und andererseits eine kritische soziale Arbeit als eine von der vorherrschenden sozialen Arbeit kritisch sich absetzende soziale Arbeit.

Kritische Theorie der sozialen Arbeit: Die kritische Theorie kritisiert die soziale Arbeit in grundlegender Weise dahingehend, dass es sich bei derselbigen um einen gesellschaftlich ausdifferenzierten Bereich handelt, in welchem auf die Folgen der gesellschaftlichen Widersprüche nur reagiert werden kann, ohne auf die Widersprüche selber eingehen zu können. Die Utopie einer freien Gesellschaft hätte jedoch - so die kritische Theorie - darin zu bestehen, dass die gesellschaftlichen Widersprüche aufgehoben wären, es in der Folge eine soziale Arbeit als einen gesellschaftlich ausdiffenzierten Bereich gar nicht mehr bräuchte. Die Gesellschaft selber wäre sozial. Die kritische Theorie stellt die soziale Arbeit als einen gesellschaftlich ausdifferenzierten Bereich vermittels einer immanenten Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche also grundsätzlich in Frage, dabei aufzeigend, dass die praktische soziale Arbeit nicht mehr vermag, als die Folgen dieser Widersprüche auf die Menschen bestenfalls zu lindern, schlechtestenfalls verstärkend weiterzugeben. Der hier Schreibende versuchte eine in diesem Sinn kritische Analyse in seinem Buch "Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus".

Kritische soziale Arbeit als eine von der vorherrschenden sozialen Arbeit kritisch sich absetzende soziale Arbeit: Die heute vorherrschende soziale Arbeit erweist sich zunehmend als eine, die sich höchst unsozial gegenüber den Ausgegrenzten der Gesellschaft verhält. Stichworte dazu wären "Integration als Sozialdisziplinierung", "Null Toleranz", "Workfare". Eine kritische soziale Arbeit setzt sich von einer derart repressiven sozialen Arbeit dadurch ab, dass sie dem vorherrschenden "Unsozialen" der sozialen Arbeit eine gleichsam "soziale" soziale Arbeit entgegen zu stellen versucht. Im Rahmen einer solchen kritischen sozialen Arbeit wird etwa gefordert, dass die Sozialleistungen (im Rahmen der Sozialhilfe, Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung) bedingungslos gewährt werden (auch der hier Schreibende fordert solches), oder es wird gefordert, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird (was der hier Schreibende eher ablehnt; vgl. Kommentar K62). Kritische soziale Arbeit zielt im Gegensatz zum obigen Begriff nicht primär auf die Utopie einer gesellschaftlich aufgehobenen sozialen Arbeit, sondern primär auf eine qualitativ gute soziale Arbeit.

Die grosse Gefahr besteht darin, dass das eine Verständnis von kritischer sozialer Arbeit gegen das andere ausgespielt wird.

Tatsächlich gibt es die - salopp formuliert - 68er-Formel, worin davon ausgegangen wird, dass jede soziale Arbeit systemstabilisierend sei, es also keinen Zweck habe, hier Verbesserungen anzustreben, da jede ausdifferenzierte soziale Arbeit von den so genannten gesellschaftlichen Grundwidersprüchen ablenke und damit zur Stabilisierung des Bestehenden beitrage. Dem ist entgegen zu halten, dass die gesellschaftlichen Widersprüche doch auch unabhängig davon kritisiert werden können, ob man im Bereich der sozialen Arbeit jetzt für bestimmte Reformen kämpft oder nicht dafür kämpft. Beispielsweise konnte Adorno sich einerseits an vorderster Front für die Einleitung von Bildungsreformen an Schulen und Universitäten einsetzen, andererseits und parallel dazu die grundlegende gesellschaftliche Tendenz zur Halbbildung kritisieren, welche durch jene von ihm unterstützten Reformen in gewissen Momenten gar noch verstärkt wurde. Diese Doppelhaltung ist in der Tat als ein schizophrenes Verhältnis zur Sache zu bezeichnen, derart eben, dass man zwar in einem spezifischen gesellschaftlichen Bereich wie etwa der Bildung oder der sozialen Arbeit für bestimmte Reformen kämpft, sich im Gleichen gezwungen sieht, gewisse mit den Reformen einhergehende Aspekte als zugehörig zur Tendenz zum Schlechteren zu kritisieren. Adorno für seinen Fall war sich dieser Schizophrenie voll bewusst, hielt sie aber für unvermeidlich. Viele 68er verlachten und verspotteten ihn genau deswegen, warfen ihm fehlende Radikalität vor usw.

Umgekehrt existiert eine Art von Standpunkt, die in Kritik der vorherrschenden sozialen Arbeit genau zu wissen vermeint, wie die richtige soziale Arbeit zu gehen hätte, respektive annimmt, dass diese kritische soziale Arbeit, würde sie breit praktiziert, auch die Gesellschaft als Ganzes zum Bessern verändern würde. Es wird hier dann einer bestimmten kritischen Praxis der sozialen Arbeit absolute Priorität eingeräumt, dabei jeglicher Versuch, die gesellschaftlichen Widersprüche theoretisch zu durchdringen, als unnütz abgelehnt. Dabei nun wird unterschätzt, dass jeder eingenommene Standpunkt ein gesellschaftlich durchdrungener ist, es eben sehr rasch geschehen sein kann, dass dieser angeblich eigene kritische Standpunkt hinterrücks zum festen Moment des allgemein Vorherrschenden geworden ist. Das gilt nicht minder für kritische Standpunkte, und alleine die Rede vom Standpunkt, welche Unabhängigkeit sich prinzipiell zugute schreibt respektive voraussetzt, erweckt den Verdacht, dass dem genau nicht so ist. So waren beispielsweise die Protagonisten des heutigen Workfare auch einmal jung und kritisch und vermeinten - etwa unter dem Titel der sozialen und beruflichen Integration - einen kritischen Standpunkt gegenüber der vorherrschenden sozialen Arbeit (welche die Betroffenen zu wenig förderte und forderte) zu vertreten ... Und am Schluss beförderten sie - bewusstlos den Globalisierungsideologien folgend - alle möglichen Formen des Lohndumpings sowie die Zwangsarbeit am oder unter dem Existenzminimum. Gegen ein solches Hereinfallen hilft wirklich nur die Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingtheiten des eigenen so genannten kritischen Standpunktes, und dieses dann läuft notwendig auf Gesellschaftskritik hinaus.

Die Quintessenz des hier Erörterten besteht in der Einsicht, dass eine kritische soziale Arbeit immer beide hier hervorgehobenen Momente gleichzeitig zu berücksichtigen hätte, also kritische soziale Arbeit sowohl als eine kritische Theorie der sozialen Arbeit als auch als eine zur vorherrschenden sozialen Arbeit gegenläufige und insofern kritische soziale Arbeit. Beides gleichzeitig ist zu betreiben im Wissen darum, dass das eine das andere immer auch in Frage stellt. Der Zwang zu solcher Schizophrenie liegt in der in sich widersprüchlichen Sache selber. Es gilt, sie auszuhalten.