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"Das Verhör des Harry Wind" (Roman von Walter Matthias Diggelmann) / "Manipulation" (Film)
12. November 2011 |
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Walter Matthias Diggelmann (1927 - 1979) feierte im Jahr 1962 mit seinem Roman "Das Verhör des Harry Wind" einen grossen Erfolg. Der Roman ist eine Meisterleistung. Man möchte fast sagen: Diggelmann zeichnet die Schweiz in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg so, wie sie wirklich war, und zwar - scheinbar paradox - auf der Basis der Geschichte eines Geschichtenerfinders. Der Geschichtenerfinder heisst Harry Wind. | |||||
Herrschaftsverhältnisse werden wesentlich durch die Verbreitung von in manipulativer Weise konstruierten Geschichten über angebliche Bösewichte reproduziert, etwa über die angeblich einen Umsturz planenden "Kommunisten" oder die angeblich Anschläge vorbereitenden "Terroristen".
In der Nachkriegszeit der Schweiz wurde die Geschichte der angeblich kommunistisch bedrohten respektive unterwanderten Schweiz produziert und reproduziert. Sie diente der schweizerischen Elite dazu, ihre steuerfinanzierten Geschäfte, insbesondere den Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes inklusive geheimer Planung der Anschaffung von Atomwaffen zu betreiben. Die Ausbeutung der Bevölkerung basierte nicht nur auf derartigem offiziellen Umleiten von Steuergeldern vermittels Denunziation Dritter, sondern parallel auf der auf verschiedensten Ebenen laufenden Ausbeutung insbesondere der untersten, angeblich zu "schlechter Gesinnung" neigenden Schichten der Bevölkerung. Alles Abweichende wurde als implizit zum Kommunismus tendierend gedeutet und entsprechend konnte auch angeblich legitim durchgegriffen respektive ausgebeutet werden. Diese Ausbeutung lief via Vormundschaftswesen, Heimwesen, "Fürsorgerischer Freiheitsentzug", "Kinder der Landstrasse" und vieles andere mehr. |
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Walter Matthias Diggelmann Das Verhör des Harry Wind Werkausgabe Band 3 Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Klara Obermüller Zürich: edition 8, 2002 |
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Die Geschichten wurden von PR-Büros wie damals in Wirklichkeit dem "Büro Farner" (geleitet von Oberst Rudolf Farner) entwickelt, bei dem Diggelmann selber eine Zeitlang als Werbetexter arbeitete und das ihm unter anderem als Grundlage für seinen Roman diente. "Farner PR" existiert übrigens heute noch und wirbt mit dem - vom griechischen Philosophen Epiktet übernommenen - Slogan: "Nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über die Tatsachen bestimmen das Zusammenleben." Diggelmann wusste gleichzeitig aus eigener Erfahrung, was es heisst, bevormundet zu sein, und eine seiner grossen Leistungen bestand darin, den Zusammenhang der verschiedenen Sphären - eben etwa der "grossen" Politik auf der einen Seite und dem Vormundschaftswesen auf der anderen Seite - aufzuzeigen. Heute weiss man, dass in der Nachkriegszeit rund zehn Prozent der in der Schweiz lebenden Bevölkerung von den schweizerischen Nachrichten- und Geheimdiensten bespitzelt wurden. In der so genannten Fichenaffäre kam es raus. Für viele Betroffene hatte die Bespitzelung respektive Denunziation dramatische Folgen. Insbesondere nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 wurden viele Linke etwa aus dem Schuldienst entlassen und/oder mittels schwarzer Listen unter ein allgemeines Berufsverbot gestellt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Peter Surava (1912 - 1995), dem exzellenten Journalisten (Surava schrieb schon früh Sozialreportagen, etwa über die Lage der "Verdingkinder"), und an Konrad Farner (1903 - 1974), dem Kunsthistoriker und Marxisten. Im Roman von Walter Matthias Diggelmann produziert Harry Wind die von der schweizerischen Elite benötigten Geschichten. Zwar wird Wind fast selber zum Opfer seiner eigenen Geschichten, das heisst zu dem, zu dem er andere mittels seiner Geschichten "macht", zum "Landesverräter". Doch vermag er sich der Anklage dadurch zu entziehen, dass er im Verhör eine neue, ihn rettende Geschichte erfindet. Es rollen statt seines die Köpfe anderer. Wenn Harry Wind dem ihn verhörenden Bundespolizisten seine Geschichte erzählt, erzählt er wesentlich, wie korrekt er zu einem an die vorherrschenden Verhältnisse sich anpassenden Produkt wurde, das heisst, wie sehr er auf seine Weise - eben mit seinen Geschichten respektive seinem Geschichten erfindenden Büro - lernte, sich korrekt ins Falsche einzuordnen, lernte, einer der wichtigsten Funktionäre bei der Reproduktion dieses Falschen zu werden. Wind lernte, die Unwahrheit der Herrschenden als Wahrheit vorzustellen, sich gerade nicht so zu verhalten, wie es der bevormundete Vital tat, der im Haus von Harry Wind neben diesem aufwuchs. Vital musste für seinen Vormund (Vater von Harry Wind) arbeiten, ohne dass er dafür bezahlt wurde. Vital nimmt sich heimlich das ihm zustehende Geld aus der Kasse seines Vormunds und trägt es auch in dessen Kassabuch ein, ganz so, wie es korrekt zu erfolgen hätte. Wie die Sache rauskommt, steht er wahrheitsgemäss dazu, nicht gestohlen zu haben, was er in den Augen der anderen aber nicht hätte tun dürfen. Man darf ihnen gemäss nicht sagen, wie die Verhältnisse wirklich liegen, wie sein Vormund wirklich mit ihm verfährt. Vital sagt es aber und soll dafür ins Gefängnis. Harry Wind dagegen lernte, die erwarteten Geschichten zu liefern, wird schrittweise von seiner Mutter, der Schule, der Armee gelehrt, dass er nur vorwärts komme, wenn er Geschichten erzähle, die die Wahrheit im Dienst der Herrschenden verdrehen. Die von Harry Wind zu dessen eigener Rettung gelieferte Geschichte erzählt davon und ist insofern wahr. Wind selber kennt die Wahrheit, doch interessiert er sich nur unter dem Gesichtspunkt für sie, als er sie als Moment für sich und seine Werbetätigkeit zugunsten der Mächtigen einsetzen kann. Um sein Leben zu retten, erklärt er dem ihn verhörenden Bundespolizisten, wie man Kampagnen lanciert und auf diese Weise Abstimmungskämpfe wider die Wahrheit gewinnt. Gleichzeitig stützt er die Ideologie der Mächtigen, ohne aber an diese zu glauben, sondern sich lediglich an sie haltend, weil es die der Mächtigen ist und dieses ihm ein gutes Leben ermöglicht. Ihm spielt es keine Rolle, ob er dabei hilft, Bananen zu importieren oder Atombomben zu importieren. Seine Gewissenlosigkeit macht ihn gar gefährlicher als jene, denen er dient. Es erinnert an Adolf Eichmann, den "Transportminister" der Nazis, der "auch einfach nur" Transporte organisierte. Aber wie rasch ist eine jede und ein jeder von uns zu einem Harry Wind geworden? Diggelmann schafft es in seinem Roman, dass auch der Leser sich vom Wind, vom vorherrschenden Wind einwickeln lässt, sich mit ihm zu identifizieren beginnt. Der Roman Diggelmanns ist jüngst verfilmt worden. Im Film tritt die von Wind beförderte schweizerische "Geschichte", eben die des kommunistisch angeblich unterwanderten Landes in den Vordergrund, und in diesem Zusammenhang verstärkt der Bundespolizist, der Wind verhört und der an seine Aufgabe und mithin die "Geschichte" wirklich glaubt. |
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Die von Diggelmann geschilderte und oben angedeutete, die Schweiz gleichsam total durchziehende faschistoide Athmosphäre, die eben gerade nicht nur das Politische im engeren Sinne betraf, muss im Film zurücktreten. Der Roman Diggelmanns ist Gesellschaftskritik, der Film dagegen ist eher nur ein - wie es auch offiziell heisst - Polit-Thriller. Aber er ist ein guter Polit-Thriller insofern, als er zeigt, wie leicht manipuliert werden kann, und wie leicht gar noch Bundespolizisten manipuliert werden können. |
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Film
auf der Basis des Romans von Walter Matthias Diggelmanns: "Das Verhör des Harry Wind" Manipulation Mit: Klaus Maria Brandauer, Sebastian Koch Drehbuch: Alex Martin, Marion Reichert Regie: Pascal Verdosci Sunvision Filmatelier 2011 |
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