K52
Nicht das Wesen, nicht das Ideal, sondern "nur" besondere Momente
Zum Bild "Les Demoiselles d'Avignon" von Pablo Picasso

26. November 2011

Im Jahr 1907 schuf Pablo Picasso mit dem Bild "Les Demoiselles d'Avignon" ein für die Malerei epochemachendes Werk. Auf dem Bild sind fünf Damen zu sehen, zwei posierende Damen in der Mitte des Bildes, den Blick dem Betrachter zugewendet, eine Dame links im Profil mit Blick geradeaus, eine Dame rechts unten sitzend mit geöffneten Beinen und dem Rücken zum Betrachter, den Blick aber zu diesem zugewandt, eine Dame rechts hinten stehend, den Blick wie ins Leere gerichtet. Die zwei letztgenannten Damen sind nackt, die ersten drei teilweise mit Tuch bedeckt.
Das Bild ist aus verschiedenen Gründen epochemachend. Zunächst dadurch, dass die Köpfe und die Körper der Frauen in besonderer Weise gezeichnet sind. Es wird von den Formen, wie der übliche Blick auf eine Frau sie sehen lassen, abgewichen. Ein solches Abstrahieren findet sich in den "Les Demoiselles d'Avignon" zum ersten Mal so, und Picasso bereitete es gemäss Berichten auch während rund zweier Jahre vor.

Wenn bei den Werken Picassos von Abstraktion die Rede ist, dann meint das aber gerade nicht Gegenstandslosigkeit, sondern eine Art des Abziehens oder des sich Trennens (lat. abstrahere: abziehen, trennen) von der üblichen Gegenstandstreue, das Eröffnen des Blicks auf Momente des Gegenstands, die auf den ersten Blick unsichtbar sind. Picasso malte immer gegenständlich, auch dort, wo er abstrahierte. Ihm gemäss gibt es keine Abstraktion ohne Gegenstand respektive, auch die Abstraktion gibt einen Gegenstand, aber eben "einfach" in bislang ungesehenen Momenten. Und zu einem solchen Abstrahieren kommt es pointiert in den "Les Demoiselles d'Avignon" wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt. Es liegt impizit jeder Malerei zugrunde - ausser es wird nichts als photographische Abbildlichkeit avisiert -, wurde aber erst von Picasso zum expliziten Thema der Malerei erhoben.

Die jeweils vorzunehmende Abstraktion hängt vom konkreten Gegenstand ab. Man möchte mit der Abstraktion besondere Momente des Gegenstands treffen, die durchaus präsent, dem üblichen oder vorherrschenden Blick aber entzogen sind. Das Bild "Les Demoiselles d'Avignon" zeigt Momente einer Bordellszene. Gezeigt werden Prostituierte. Prostituierte versuchen unter anderem, einem bestimmten Weiblichkeitsideal zu entsprechen, im Grunde so, wie die antike Kunst bestrebt war, beim Malen oder Modellieren von Frauenkörpern einem bestimmtes Weiblichkeitsideal nahe zu kommen. Prostituierte sind immer auch Schauspielerinnen oder vielmehr, mit Bezug auf das Posieren, Künstlerinnen, die sich selber zu einem Kunstwerk zu machen versuchen. Sie wollen - im auf die Gegenwart zu übertragenden Sinn - erscheinen wie die "Venus von Milo", und in diesem Bestreben werden die beiden ersten Damen in "Les Demoiselles d'Avignon" pointiert dargestellt. Sie sind dem Betrachter ganz zugewandt, nehmen explizite Posen ein, fixieren den Betrachter mit den Augen voll und ganz.

(Was liebte Picasso wohl mehr, die reelle Erscheinung solcher Damen oder die Art und Weise, wie er sie in seinen Bildern erscheinen lassen konnte? Auch die Liebe hat verschiedene Gesichter.)

Das gleichsam hellenistische Motiv wird bei der zentralen "Demoiselle d'Avignon" am meisten hervorgehoben. Sie hat beide Arme hinter dem Kopf verschränkt wie bei einer Statue. Die dadurch gebildete Spitze zwischen den Armen - wie vor Stein oder Marmor und als daraus hervorgegangen nur in abstracto angedeutet -, befindet sich, horizontal gesehen, genau in der Mitte des Bildes, genau wie die Spitze des unten angedeuteten Tisches, auf dem sich unter anderem göttliche Trauben befinden. Der Schoss der Dame scheint sich vertikal gesehen im goldenen - göttlichen - Schnitt zu befinden. Es ist bei Picasso aber alles nicht abbildlich, sondern eben abstrahiert dargestellt, die wesenhaften Idealzutaten gleichsam stilisiert, kritisch ernst stilisiert: Die Venus von Milo ins Bordell herunter geholt, aufgeklärt als nicht wesenhaft, sondern als Kunst von Prostituierten, als eines ihrer Momente. Schon deshalb ist das Bild im Grunde ketzerisch.

Zu den stilisierten Idealzutaten der zentralen Damen gehört das Himmelsblau des Vorhangs im Hintergrund respektive des Tuchs der vorderen der beiden posierenden Damen. Ihm wird das Teufelsrot des Vorhangs vorne links, des Tuchs der von links zutretenden Dame, dem Hintergrund der beiden Frauen rechts, der Melone, dem Apfel und der Birne vorne auf dem Tischchen, der Farbe von Kopf und Hand der Frau vorne rechts mit den geöffneten Beinen entgegen gehalten. Mit ihm und den zugehörigen Damen wird das Gegenteil jenes vordergründigen Posierens stilisiert - wichtig auch hier stilisiert und nicht abgebildet: die Sexarbeit selber. Sie ist im üblichen Ideal die Hölle, das Niedere, das Beschmutzte.

Die von links zutretende Dame scheint die Arbeit gerade hinter sich zu haben, die beiden Frauen rechts scheinen an der Arbeit zu sein. Der Blick der letzteren beiden ist nicht mehr posierend, sondern eher leer, an anderes denkend, vielleicht auch konzentriert auf die Arbeit. Deren Gesichter weisen auch nicht mehr die Makellosigkeit der mittleren zwei auf. Aber auch die Hölle ist herauf geholt ins Überirdische, auch hier aufgeklärt als eine nicht wesenhafte, sondern als Kunst von Prostituierten, als eines ihrer Momente.

Dazu gehört noch das Format des Bildes, das nur wie ein - ideales - Quadrat erscheint, in Wirklichkeit aber rund zehn Zentimeter höher als breiter ist. Auch hierdurch wird das Ideal verrückt, aber nicht einfach zerstört, sondern kritisch zurechtgerückt.

Die Gesichter aller fünf Damen sind bei aller Unterschiedlichkeit maskenhaft. In der Maskenhaftigkeit wird das Moment hervorgehoben, dass Prostituierte ihr Gewerbe ohne Preisgabe ihrer Seele zu betreiben suchen. Genau dieses Verdecken wird durch die Maskenhaftigkeit herausgestellt, fast wie - um mit kritischer Theorie zu sprechen - in bestimmter Negation. Picasso zeigt, was nicht da sein darf. Das macht das Bild - im Gleichen - traurig und wahr.