K53
Dekommodifizierung oder Kommodifizierung durch den Wohlfahrtskapitalismus?
Eine Gegenhypothese gegen den Begriff der Dekommodifizierung bei Esping-Andersen

28. Januar 1012

Der Begriff der Dekommodifizierung (englisch: De-Commodification) wurde von Gosta Esping-Andersen in seiner starken These von 1990 zu den drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus (vgl. Hinweis) gleichsam neu belebt. Seither wird der Begriff immer wieder zitiert und im Zuge der jüngsten Globalisierung und dem damit einhergehenden Sozialabbau wird auch davon gesprochen, dass die errungene Dekommodifizierung wieder rückgängig gemacht worden sei, wieder eine Kommodifizierung eingesetzt habe.
Unter Dekommodifizierung versteht Esping-Andersen im Anschluss an Thomas H. Marshalls und Karl Polanyis Analysen einen sozialpolitischen Prozess, dank dem die Abhängigkeit der Arbeiter von der Warenproduktion respektive deren Los, selber zur blossen Ware gemacht zu werden (Ware heisst im Englischen: Commodities), gemildert wird. In diesem sozialpolitischen Prozess würden soziale Sicherungssysteme geschaffen, die die Arbeiter für den Fall, dass sie ihre Arbeitskraft nicht mehr oder nicht mehr genügend verkaufen können (etwa infolge von Arbeitslosigkeit, Armut, Unfall, Krankheit, Invalidität, Alter), in ihrer Existenz mehr oder weniger gut absicherten. Dadurch werde verhindert - so Esping-Andersen -, dass die Arbeiter wie Ware würden, die auch wie solche ganz fallen gelassen werden könnten.

Infolge der ab dem späten 19. Jahrhundert wachsenden Revolutionsdrohungen von Seiten grosser Teile der Arbeiterschaft sahen sich die politischen Hauptströmungen der bürgerlichen Gesellschaften dazu gezwungen, den Arbeitern durch Sozialreformen respektive eben durch das entgegen zu kommen, was Esping-Andersen Dekommodifizierung nennt. Sehr vereinfachend gesagt führten die Konservativen Sozialversicherungen ein, stärkten die Liberalen das kommunale Fürsorgewesen und forcierte die Sozialdemokratie verschiedene Systeme der Grundversorgung. Hierzu entwickelte Esping-Andersen seine Typologie der "drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus", und der Autor legt auch dar, wie die Dekommodifizierung in welchen Ländern in welcher Ausformung und welchem Grad vonstatten ging. Das Empirische soll hier aber nicht weiter interessieren. Vielmehr soll der Begriff der Dekommodifizierung respektive eine im Begriff drinsteckende Problematik interessieren.

Die Problematik besteht darin, dass für das von Esping-Andersen als Dekommodifizierung Beschriebene nicht ohne Weiteres gesagt werden kann, dass dadurch - wie von Esping-Andersen behauptet - die Abhängigkeit der Arbeiter von der Warenproduktion gemildert wurde. Es gibt gute Gründe, das Gegenteil zu behaupten, nämlich, dass die Abhängigkeit durch die Dekommodifizierung verschärft wurde, was dann zum scheinbaren, hier hypothetisch vertretenen Paradox führt, dass die Kommodifizierung durch die so genannte Dekommodifizierung gar noch verstärkt wurde.

Am besten lässt sich das an den von Bismarck im neu entstandenen deutschen Reich eingeführten Sozialversicherungen illustrieren. Durch den deutschen Reichstag wurde 1883 ein "Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (KVG)", 1884 ein "Unfallversicherungsgesetz" bei Betriebsunfällen und 1889 eine "Gesetzliche Rentenversicherung" im Sinne einer Invaliditäts- und Alterssicherung erlassen. Um in den Genuss dieser Versicherungsleistungen zu kommen, wurde in jedem Fall vorausgesetzt, dass die zu versicherende Person einer Arbeit nachging, woraus die Versicherungsleistungen gespiesen wurden. Wer nicht bereit war, in die Fabriken arbeiten zu gehen oder allenfalls gar streikte, war damit nicht abgesichert. Damit gelang es Bismarck, einen Keil in die Arbeiterschaft zu treiben respektive einen Teil der Arbeiterschaft vermittels der eingeführten Sozialversicherungen an die Arbeit zu binden. Und auch Esping-Andersen weist selber darauf hin, dass die von Bismarck gegebene Antwort auf die "soziale Frage" Bestandteil von dessen grösserer Vision eines Staates von "Soldaten der Arbeit" gewesen sei, wonach Bismarck eben danach trachtete, die Arbeiter zu Soldaten zu machen, welche die nationale Ökonomie vorwärts zu treiben hätten (bei Esping-Andersen im zitierten Buch: p. 40). Und es war nicht zufällig auch Bismarck, der bereits 1878 das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (Sozialistengesetz)" durch den Reichstag brachte. Das Gesetz beinhaltete ein im deutschen Reich geltendes Verbot sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen und deren Aktivitäten.

Es wäre damit von einer Art Kooptierung der Arbeiterschaft in die kapitalistisch organisierte Warenproduktion zu sprechen, die von Bismarck gleichsam mittels Zuckerbrot (die eingeführten Sozialversicherungen) und Peitsche (die Sozialistengesetze) vollzogen wurde. Esping-Andersen bezeichnet diese konservative Tradition als erste systematische und vorsätzliche Attacke gegen die Kommodifizierung an die Lohnarbeit (S. 41), was nun allerdings in Frage zu stellen wäre. War es nicht vielmehr eine systematische und vorsätzliche Attacke zugunsten der Kommodifizierung an die Lohnarbeit?

Tatsächlich scheint ein Problem in der Beurteilung nicht nur bei Esping-Andersen darin zu liegen, dass bei Analysen von Wohlfahrtssystemen das Gewicht zu sehr auf die Frage gelegt wird, was mit den Arbeitern bei Eintreten eines Arbeitsplatzverlusts passiert, und zu wenig auf die Frage, was alles vorausgesetzt wird, damit es zu dem, was bei Eintreten eines Arbeitsplatzverlusts passiert, überhaupt kommen kann. Die Menschen müssen nämlich gleichsam mit Haut und Haar Arbeiter geworden sein, bevor sie in den Genuss möglicher Sozialversicherungen und also der sogenannten Dekommodifizierung überhaupt kommen können. Sie müssen sich auf die Lohnarbeit respektive die Warenproduktion zuerst über Jahre und mit Blick auf die Altersrente ein ganzes Arbeiterleben lang eingelassen haben. Die damit einhergehende Eingewöhnung in die Lohnabhängigkeit hat - so beurteilt - dann also erheblich mehr mit Kommodifizierung an die Arbeit als mit Dekommodifizierung zu tun. Oder anders gesagt: In dieser anderen Optik war die von Esping-Andersen so bezeichnete Dekommodifizierung ein grundlegendes Mittel zur Kommodifizierung.

Wenn die Sozialleistungen im Zuge des jüngsten Globalisierungsschubs der 1990er und 2000er Jahre derart leicht durchlöchert und die Arbeiter und Angestellten derart leicht in "Arbeitskraftunternehmer" verwandelt werden konnten (vgl. zum "Arbeitskraftunternehmer" die Kommentare K37 und K38), dann dürfte das auch mit der vorausgegangenen wohlfahrtskapitalistischen Eingewöhnung an die Lohnarbeit (mit Hochblüte von 1950 bis 1980) zu erklären sein.

Der Wohlfahrtskapitalismus forderte seinen identifikatorischen Preis, was wohl auch für den liberalen und den sozialdemokratischen Typ des Wohlfahrtskapitalismus nachgewiesen werden könnte. Bei diesen beiden Typen lief es im Unterschied zu den konservativen Sozialversicherungen, wo die Anbindung an die Arbeit offensichtlich ist (die Sozialversicherungen werden aus Lohnprozenten gespiesen, was also einen Lohn respektive eine Lohnarbeit voraussetzt), auf einem indirekteren Weg ab. Ohne dies hier vertiefen zu können, wäre hypothetisch zu vermuten, dass mit der liberalen Fürsorgetradition gleichsam zwei neue Klassen von Menschen geschaffen wurden, die eligiblen Arbeiter auf der einen Seite und die immer weniger eligibel gehaltenen BezügerInnen von Sozialhilfeleistungen auf der anderen Seite. Es ging um den Grundsatz, dass letztere als immer weniger berechtigt als erstere leben dürfen; im Fachjargon wird dabei englisch von "less eligibility" gesprochen. Das war und ist aber ein Zwangsmittel, sich möglichst der Lohnarbeit zu fügen, um eben nicht in jene zweite "less"-Klasse zu fallen. Ganz zu schweigen von den historischen "Work Houses", die heute im Rahmen von Workfare in neuer Form wieder erstanden sind.

Der sozialdemokratische Typ, dem Esping-Andersen die grössten Dekommodifizierungswirkungen zuschreibt, ist geprägt vom Grundsatz, dass niemand draussen bleiben soll. Deshalb wurden hier Systeme der Grundversorgung geschaffen, die auch Nichtarbeitende in Anspruch nehmen können. Es fragt sich allerdings, was sich als Drinnen und was als Draussen definiert, und ob jemand, der sich beispielsweise gegen das allgemeine Lohnarbeitsethos wendet, auch noch gestützt oder nicht vielmehr - und zwar vielleicht mehr ideell als materiell - geschnitten wird. Es wäre zu vermuten, dass die Eingewöhung aller in die Lohnarbeit hier verstärkt auf einer ethischen respektive moralischen Ebene abläuft und hiermit vielleicht gar die stärksten Kommodifizierungswirkungen erzielt wurden. Empirisch-historisch wäre das an den nordischen Staaten zu prüfen. Es geht hier nur mal um die mögliche Gegenhypothese zu Esping-Andersen, dass die drei Typen des Wohlfahrtskapitalismus jeder auf seine Art via besondere Dekommodifizierungsangebote hinterrücks die Kommodifizierung steigerte.

Zu dieser Gegenthese ist anzumerken, dass sie überhaupt nur gedacht werden kann, wenn gedanklich der enge sozialpolitische Rahmen der sozialen Sicherungsformen überstiegen und verstärkt gesellschaftstheoretisch argumentiert wird. Es kämen zusätzlich weitere Anbindungsformen an die Warenproduktion und die Lohnarbeit in den Blick, etwa via Konsumismus, via Angebote für Frauen, sich vermittels Lohnarbeit von der Familie zu emanzipieren usw. Auch könnte die These formuliert werden, dass mit dem Abbau der Sozialleistungen, steigender Arbeitslosigkeit, eingeschränktem Konsumismus à la longue auch die damit erzielten und hier hypothetisch gegen Esping-Andersen angenommenen Kommodifikationswirkungen verpuffen würden. Ob die Menschen das nutzen, um sich von der Lohnarbeit zu emanzipieren und selbstbestimmt-offenere Arbeits- und Lebensformen anzustreben, oder ob sie der erstarkenden Reaktion verfallen, ist allerdings eine offene Frage. Es sieht eher schlecht aus.