K02 Der gelbe Gürtel: Marie-Thérèse
Ein Moment in der Kunst von Pablo Picasso

18. Dezember 2010

Im Kunsthaus Zürich findet vom 15. Oktober 2010 bis zum 30. Januar 2011 eine Ausstellung mit Werken von Pablo Picasso statt. Der hier Kommentierende hörte bei seinem ersten Besuch zufällig die Bemerkung, die eine ältere Frau vor einem Bild Picassos zu ihrer Kollegin machte: Das habe sie jetzt auch noch nie gesehen, dass die eine Brust nach oben, die andere nach unten zeigt.

Auch wenn die Bemerkung der Frau weit hinter dem Werk Picassos zurück bleibt, verlangt sie nach einer Antwort. Es sei dazu auf ein Bild Picassos Bezug genommen, das in der Ausstellung zu sehen ist.

Man sieht die sitzende Frau (in Stuhllehne, Armlehne) mit breitem Kopf, blondem Haar, die Nase in die Höhe gereckt, den beiden Äuglein, den schmalen Lippen, der bunten Bluse, den Rundungen der Brüste, den auf Stuhllehne und Körper aufliegenden Armen, am unteren Bildrand im Ansatz eine dunkle Hose mit hellen Streifen.
Sehr abbildlich gezeichnet ist der schmale gelbe Gürtel mit Schnalle (mit Cézannescher Genauigkeit in ocker gemalt), der die dunkle Hose von unten her gesehen wie eine Vase abschliesst, aus welcher der helle Oberkörper hervortritt.
Pablo Picasso
Der gelbe Gürtel: Marie-Thérèse
(La ceinture jaune: Marie-Thérèse)
Öl auf Leinwand, 131 x 97 cm
Courtesy Nahmad Collection, Switzerland
Der gelbe Gürtel hat die Funktion des identifizierenden Merkmals, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Er gehört offenbar zu Marie-Thérèse und weckt Assoziationen zu anderen Momenten der Frau, die sich losgelöst von Abbildlichem ergeben und verstärkt mit Ideen und Gefühlen zu tun haben. Es tritt hervor eine vergnügte Frau, aber auch eine stolze und ernste. Das Erotische scheint bei ihr eher versteckt; es wird vom Maler fast gewaltsam bedeutet. Stuhllehne, Armlehne und Gürtel geben ihr den nötigen Halt.
Scheinbar banale Dinge sind deshalb zu sehen wichtig und eben in naturwissenschaftlich gehaltener Abbildlichkeit, weil gerade sie den assoziativen Raum öffnen für Ideen und Gefühle, die - im naturwissenschaftlichen Sinn - nicht abbildbar sind, von der Kunst aber zeigbar, was dann zu einzigartigen Formen und Anordnungen führt. Es wäre von der durch menschliche Hand zurückgespiegelten Natur zu sprechen.
Brüste als einfache Ovale oder als einmal nach oben und einmal nach unten Zeigende werden möglich und verständlich. Dem wäre die Bemerkung Picassos anzufügen, wonach das allgemeine Publikum sich dann beschwere, wenn er an einem auf Ähnlichkeit ausgerichteten Bild das kleinste Detail ändere, es gleichzeitig aber ohne Murren Werke von ihm goutiere, die nichts mit Ähnlichkeit zu tun haben (vgl. zitiertes Buch: S. 44f.). Wenn also beispielsweise Brüste wie Pyramiden oder Beine wie Stelzen erscheinen, wird nicht mehr gemurrt. Zumeist wird dann aber auch nichts mehr gesehen, weder Ding noch Idee noch Gefühl.
Pablo Picasso: Über Kunst. Zürich: Diogenes 1988

"Es gibt keine abstrakte Kunst. Man muss immer mit etwas anfangen. Nachher kann man alle Spuren der Wirklichkeit entfernen. Dann besteht ohnehin keine Gefahr mehr, weil die Idee des Dinges inzwischen ein unauslöschliches Zeichen hinterlassen hat. Es ist das, was den Künstler ursprünglich in Gang gebracht hatte. Ideen und Gefühle werden schliesslich Gefangene innerhalb seines Bildes sein. Was auch mit ihnen geschehen mag, sie können dem Bild nicht mehr entschlüpfen. Sie bilden ein inniges Ganzes mit ihm, selbst wenn ihr Vorhandensein nicht länger unterscheidbar ist. Ob es dem Menschen passt oder nicht, er ist das Werkzeug der Natur. Sie zwingt ihm ihren Charakter und ihre Erscheinungsformen auf." (S. 40)

Die hervorschiessenden einzigartigen Formen und Anordnungen müssen sowohl in sich als auch mit Natur stimmig sein. Das ergibt gute Kunst.