K14 | Warum muss Anna Karenina sterben? Zum monumentalen Roman von Leo Tolstoi 12. März 2011 |
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Mit Tolstois monumentalem Roman verbindet sich die Frage, warum Anna Karenina sterben muss: Warum begeht sie Selbstmord? Der Roman gibt eine implizit soziologische Antwort: Anna Karenina geht an der Rigidität der vom russischen Adel gebildeten "Gesellschaft" zugrunde. Diese "Gesellschaft" ist wie das Eisen des Zugs, zwischen welches Anna Karenina sich schliesslich wirft. Ihre Freunde, Verwandten und Bekannten sind nicht etwa besonders negativ zu ihr, sondern agieren ihr gegenüber "lediglich" so, wie es gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. | |||||
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Annas Ehemann gibt die Einwilligung zur Scheidung nicht, gibt den Sohn nicht frei, nimmt seiner ehebrechenden Frau jede Möglichkeit des Kontakts zu diesem, den sie in den ersten acht Jahren nach der Geburt - solange die Ehe hielt - praktisch nie aus den Augen liess. Der Ehemann greift zu dieser Rache nicht deswegen, weil Anna Karenina ein aussereheliches Verhältnis hat - ein solches ist in den Kreisen fast normal -, sondern weil sie, bewusst oder unbewusst, offen zu diesem Verhältnis steht. Sie vermag nicht vorzuheucheln, es gäbe ihre Liebe nicht. Die "Gesellschaft" basiert jedoch auf solcher Heuchelei, dieses vielleicht umso mehr, als sich der russische Adel gegen Ende des 19. Jahrhunderts im ökonomischen und politischen Niedergang befindet. Sie stützt sich umso mehr mittels Pseudo-Moral. Dass Anna Karenina zu ihrer ausserehlichen Liebe steht und sich auch ihrem Ehemann gegenüber offen dazu bekennt, bedeutet für diesen eine gesellschaftliche Schmach. Seine Karriere dürfte auch dieser Schmach wegen an ein Ende gelangt sein. Gemäss gesellschaftlicher Logik muss er sich rächen. | ||||
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Leo Tolstoi Anna Karenina Roman (Buchausgabe Moskau 1878) Aus dem Russischen übersetzt von Fred Ottow Mit einem Nachwort von Johanna Renate Döring-Smirnov Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler Verlags-AG 1953/1993 |
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Anna Karenina weiss, dass die Krux in ihrer besonderen Haltung liegt, durch welche sie sich gesellschaftlich abhebt und die Männer bezaubert. (Tolstois grosse Kunst besteht darin, dieses Besondere aufs Feinste zu zeigen: Anna Karenina) Im Wissen um ihre Haltung respektive zum Schutz vor dieser dürfte Anna Karenina den trockenen hohen Beamten geheiratet und sich sofort ganz auf die Familie und ihren Sohn konzentriert haben. Ihre Haltung verschafft sich aber Bahn, wie sie in Sachen eines Seitensprungs ihres Bruders nach Moskau kommen und vermitteln muss, und dabei - noch im angekommenen Zug - Wronskij trifft, sich schlagartig in ihn verliebt und er sich in sie. Schon in diesem Moment ist ihr gesellschaftliches Schicksal - und sie weiss es im Grunde - besiegelt. Dementsprechend klar ist ihr, dass es keine Rolle spielt, ob der Ehemann der Scheidung zustimmt oder nicht zustimmt. Ihre Haltung bringt sie in gesellschaftliche Schwierigkeiten, so oder anders. Wronskij liebt Anna über alles, doch vermag er mit ihrer Eigenart nicht Schritt zu halten. Er will sie nicht zum Theater begleiten, also geht sie allein, worauf eine Dame der "Gesellschaft" prompt einen Eclat gegen sie ausführt. Wronskij nimmt seinerseits alleine an den Gesellschaften teil, als wenn nichts wäre. Er versucht, sich mit ihr zurück zu ziehen, aber es gelingt ihm nicht. Sein Leben gehört immer auch den "Gesellschaften" in Moskau und Petersburg, und ihr bleibt im Grunde nur sein Landsitz. Er hofft auf die Scheidung Anna Kareninas und malt sich ein gesellschaftlich normales Familienleben mit ihr aus. Ihre Grundproblematik aber versteht er nicht. Die "Gesellschaft" empfängt Anna kaum mehr, auch jene ihrer Mitglieder nicht, die ihr zu Dank verpflichtet sind, wie insbesondere ihre Schwägerin Dolly: "Anna, denk daran: Ich werde niemals vergessen, was du für mich getan hast. Ich liebe dich und werde dich immer lieben wie meine beste Freundin!" Dolly ist die typisch-angepasste adelige Ehefrau, die für sechs Kinder besorgt ist, während ihr überaus geselliger Ehemann ein lockeres Leben führt und Schulden anhäuft. Sie ist es aber auch, die die Liebschaft der Anna Karenina insgeheim mit grossem Neid verfolgt. Sie spürt, was sie verpasst, aus gesellschaftlichen Gründen verpassen muss; und entsprechend schnell altert sie. Auch sie wird die um Hilfe nachsuchende Anna Karenina abweisen. Leo Tolstoi (1828 - 1910) impliziert die gesellschaftliche Totalität mit derselben Meisterschaft wie es - in einem anderen Fach - der Soziologe Emile Durkheim (1858 - 1917) tat. Bei Durkheim sind es die gesellschaftlichen Tatsachen (fait social), die wie Naturkräfte auf die Menschen wirken und diese - je nach dem - ebenfalls gar in den Selbstmord treiben. Allerdings: So wenig bei Durkheim eine explizite Kritik am gesellschaftlichen Druck und an den gesellschaftlichen Widersprüchen sich kundtut, so wenig tut eine solche bei Tolstoi sich kund. In einer solchen Kritik aber - und zwar in einer vom betroffenen Individuum selber formulierten Kritik - könnte die Rettung liegen. Tolstoi erkennt diese Möglichkeit nicht und also vermag er Anna Karenina nicht zu retten. Die von der "Gesellschaft" zurückgezogene Anna Karenina liest viel, schreibt Kinderbücher, redet mit bei architektonischen Fragen. Tolstoi aber schöpft daraus keinerlei Potential für sie. Er zeichnet mit Konstantin Lewin stattdessen eine Art von Parallelfigur zu Anna Karenina: Lewin, ein adliger Gutsbesitzer, kommt nicht klar mit dem städtischen Leben, den "Gesellschaften" und den ganzen Prozeduren und Intrigen in dieser. Wenn er sich an Diskussionen beteiligt, hat er im Nachhinein immer das Gefühl, das Falsche gesagt zu haben, in ein Fettnäpfchen getreten zu sein usw. Gleichzeitig weiss er nicht, wie er sein Gut organisieren soll, wie er die Bauern motivieren und gleichzeitig zufrieden stellen kann. Zwischendurch arbeitet er mit den Bauern zusammen, hilft mit beim Mähen der Wiesen. Er verfasst ein Buch über die Organisation der Landwirtschaft und hofft, bessere Wege zu finden. Er gerät immer wieder in grosse Verwirrung, wird zwischendurch von Selbstmordgedanken geplagt und steht - hier analog zu Anna Karenina, wenn auch von der Art her ganz anders - ausserhalb der Gesellschaft. Sein Leben nimmt aber eine andere Entwicklung als das der Anna Karenina. Er heiratet, wird Vater, beginnt an die Existenz Gottes zu glauben. Der letzte Teil des Romans, der in der Zeit nach dem Selbstmord der Anna Karenina handelt, ist vor allem Lewin gewidmet. Tolstoi suggeriert, Lewin habe - im Gegensatz zu Anna Karenina - den richtigen Weg, habe sich innerhalb der "Gesellschaft" gefunden. Es ist aber - nach allem Vorherigen - irgendwie nicht glaubhaft. Tolstoi gab - insgeheim - dem Lebensweg der Anna Karenina den Vorzug. |
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