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"Sesam öffne dich - ich möchte hinaus!"
Anmerkungen zu dem von Adorno im Positivismusstreit zitierten Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec 26. März 2011 |
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Der Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec (1909 - 1966) nimmt Bezug auf das Märchen mit dem Titel "Ali Baba und die vierzig Räuber" aus den Geschichten von Tausendundeiner Nacht. Die vierzig Räuber versteckten ihre Schätze in einer Höhle, die sich öffnet, wenn man spricht: "Sesam, öffne dich!" | |||||
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Sesam öffne dich - ich möchte hinaus!
(Stanislaw Jerzy Lec) |
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Die Losung wurde berühmter als das Märchen. Sie wird bis heute identifiziert mit dem zauberhaften Zutritt zum gesellschaftlichen Glück. Stanislaw Jerzy Lec konterkariert sie: "Sesam öffne dich - ich möchte hinaus!" Lec verkehrt schlagartig das Bild: Jenes fraglos anzustrebende gesellschaftliche Glück erscheint als Gefängnis. |
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Theodor W. Adorno verwendete den Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec als Motto zu der von ihm verfassten Einleitung in den "Positivismusstreit in der deutschen Soziologie". Im Positivismusstreit wandte er sich - in Verteidigung der Dialektik - gegen die von den sogenannten Positivisten als objektiv propagierte Logik der Sozialwissenschaften. | |||||
Theodor W. Adorno Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« (1969) Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1987: |
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"Prima vista stellt die Kontroverse so sich dar, als verträten die Positivisten einen strengen Begriff objektiv wissenschaftlicher Gültigkeit, den Philosophie aufweiche; die Dialektiker verführen, wie die philosophische Tradition nahelegt, spekulativ. Dabei freilich modifiziert der Sprachgebrauch den Begriff des Spekulativen bis in sein Gegenteil. Er wird nicht mehr wie bei Hegel, im Sinn kritischer Selbstreflexion des Verstandes, seiner Begrenztheit und ihrer Selbstkorrektur gedeutet, sondern unvermerkt nach dem populären Modell, das sich unter dem Spekulierenden einen unverbindlich, gerade ohne logische Selbstkritik und ohne Konfrontation mit den Sachen eitel Drauflosdenkenden vorstellt. Seit dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems und vielleicht als dessen Folge hat die Idee der Spekulation sich dergestalt verkehrt, willfährig dem Faustischen Cliché vom Tier auf dürrer Heide. Was einmal den Gedanken bezeichnen sollte, der seiner eigenen Borniertheit sich entäussert und dadurch Objektivität gewinnt, wird subjektiver Willkür gleichgesetzt: der Willkür, weil es der Spekulation an allgemein gültigen Kontrollen gebräche; dem Subjektivismus, weil der Begriff der Tatsache von Spekulation durch Emphase auf Vermittlung aufgelöst werde, durch den 'Begriff', der als Rückfall in scholastischen Realismus erscheint und, nach positivistischem Ritus, als Veranstaltung des Denkenden, die vermessen mit einem Ansichseienden sich verwechsle." (Adorno, S. 11) | |||||
Adornos Argument geht dahin, dass die Wahrheit nicht alleine - wie es der Positivismus unterstellt - beim Subjekt und seiner Kritik liegt. Er spricht sich aus gegen das, was er als "pemanente reductio ad hominem" (S. 12) bezeichnet. Es gibt ihm gemäss auch die Sache ausserhalb, als eine, welche dem Individuum prinzipiell fremd gegenüber steht. Gerade deshalb wäre mit ihr - als Alternative zu ihrer blossen, nie richtig gelingenden Beherrschung - Versöhnung denkbar. Dort hinaus möchte Adorno, und deshalb zitierte er Lec. |
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Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen (Theodor W. Adorno) |
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Im Gegensatz dazu streben die Positivisten das an, was Karl R. Popper als "sachliche Kritik" (vgl. das nachstehend Zitierte) bezeichnet. Das meint nun aber nicht - pointiert ausgedrückt - die Selbstkorrektur der subjektiven Vernunft durch die Sache, sondern umgekehrt die permanente Kontrolle der Sache durch die subjektive Vernunft. Die Kontrolle hat - gemäss Popper - vermittels der "Logik der Sozialwissenschaften" respektive der "Methode der Sozialwissenschaften" zu erfolgen. Im Rahmen des Positivismusstreits wird sie von Popper folgendermassen erläutert: |
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"Sechste These (Hauptthese): |
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Karl R. Popper Die Logik der Sozialwissenschaften (1969) Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1987: |
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c) Wenn ein Lösungsversuch durch unsere Kritik widerlegt wird, so versuchen wir es mit einem anderen. d) Wenn er der Kritik standhält, dann akzeptieren wir ihn vorläufig; und zwar akzeptieren wir ihn vor allem als würdig, weiter diskutiert und kritisiert zu werden. e) Die Methode der Wissenschaft ist also die des tentativen Lösungsversuches (oder Einfalls), der von der schärfsten Kritik kontrolliert wird. Es ist eine kritische Fortbildung der Methode des Versuchs und Irrtums ("trial and error"). f) Die sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritischen Methode; das heisst aber vor allem darin, dass keine Theorie von der Kritik befreit ist, und auch darin, dass die logischen Hilfsmittel der Kritik - die Kategorie des logischen Widerspruchs - objektiv sind." (Popper, S. 105f.) |
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Sachliche Kritik meint bei Popper die auf "Fakten" oder "Tatsachen" gegründete Kritik. Dann, wenn eine Theorie oder eine Hypothese oder ein Lösungsversuch den "Fakten" oder "Tatsachen" nicht widerspreche, dürfe sie aufrecht erhalten bleiben. Wenn eine Theorie oder Hypothese hingegen den "Fakten" widerspricht respektive nicht auf "Fakten" abgestützt werden könne, dann sei sie der "sachlichen Kritik" nicht zugänglich und man habe sie - wie es im obigen Punkt a heisst - eben deshalb als unwissenschaftlich auszuschalten. | |||||
Die positivistische Methode der permanenten Kontrolle durch sachliche Kritik setzt voraus, dass man immer schon weiss, was Sache ist: Faktum oder Tatsache. (kw)
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Die positivistische Welt besteht aus einer Schatzhöhle von "Fakten" und "Tatsachen". Dass es sich bei diesen "Fakten" und "Tatsachen" um das zum Vornherein gesellschaftlich partikular Zugerichtete handelt, können oder wollen Popper und seine Anhänger nicht sehen. Sie setzen sie stillschweigend voraus und nennen sie "sachlich". Dementsprechend erscheinen ihnen Theorie der Gesellschaft oder ausschreitende Philosophie als blosse Metaphysik. | |||||
Genau mit Bezug auf die positivistische Schatzhöhle formuliert Adorno mit Lec die Gegenlosung: "Sesam öffne dich - ich möchte hinaus!" Und draussen erst begänne die Arbeit, das, was Adorno als "offene Dialektik" bezeichnet. Sie rechnet mit Widersprüchen - die für die Positivisten schon gar nicht sein dürfen -, erst recht gesellschaftlichen, nimmt aber auch den Positivismus respektive die "Fakten" in die Reflexion hinein, als selber zu reflektierende Momente. | |||||
Prägnant lautet der Widerspruch: dass beim Tausch alles mit rechten Dingen zugeht und doch nicht mit rechten Dingen.
(Adorno, S. 34) |
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