K119 | Aus den SKOS-Richtlinien werden die "SODK-Richtlinien" Zur jüngsten Entwicklung in der Sozialhilfe (Teil 2) 13. Juni 2015 |
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Die bislang von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) herausgegebenen SKOS-Richtlinien (Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe) werden neu von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) erlassen. Dementsprechend müssten die Richtlinien neu eigentlich "SODK-Richtlinien" heissen. Die SODK hat sofort, nachdem sie über die Richtlinien bestimmen konnte, verschiedene Kürzungen und Verschärfungen per 1.1.16 angekündigt. Dabei ging sie punkto Verschärfungen über die Empfehlungen der SKOS, welche diese auf der Basis einer durchgeführten Vernehmlassung erarbeitet hatte, wesentlich noch hinaus. (Vgl. dazu Teil 1: Kommentar K118) Mit der jüngsten Entwicklung setzt eine Tendenz sich fort, die bereits zu Beginn der 2000er Jahre einsetzte und die im Zusammenhang steht mit dem auch international erfolgten Wechsel von Welfare zu Workfare. An dieser Stelle kann auf den Wechsel insgesamt nicht eingegangen werden (vgl. dazu: Kurt Wyss: Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus. Zürich: edition 8, 2007 (jetzt in vierter Auflage erhältlich)). Ein zentrales Element des erfolgten Wechsels besteht im Motiv, die Sozialhilfe als ein so genanntes "Anreizsystem" auszugestalten. Demnach sollen die Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhillfeleistungen dann, wenn sie bestimmte "Gegenleistungen" erbringen, mehr Unterstützung erhalten, und dann, wenn sie diese "Gegenleistungen" nicht erbringen, obwohl es als zumutbar angesehen wird, weniger oder gar keine Unterstützung erhalten. Verschiedene Städte der Schweiz (wie Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen usw.) führten "Anreizsysteme" Anfang der 2000er Jahre im Rahmen von Pilotprojekten ein. "Anreizsysteme" waren in den damaligen SKOS-Richtlinien noch keine empfohlen. Die hier formulierte These lautet, dass mit der vor etwa 15 Jahren begonnenen Ausgestaltung der Sozialhilfe als "Anreizsystem" die gesamte darauf folgende Entwicklung, die auf eine immer stärkere Durchlöcherung des verfassungsmässig garantierten Rechts auf Existenzsicherung hinaus lief, recht eigentlich auf die Bahn gebracht worden war. Die Verantwortlichen damals öffneten gleichsam, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Büchse der Pandora. Sie gingen davon aus, dass sich das in Gang gesetzte "Anreizsystem" im Griff behalten lasse, was freilich ein grundlegender Irrtum war. Mit dem "Anreizsystem" wurden in die Sozialhilfe zwei grundlegende Probleme implementiert: 1. Die Sozialhilfe als "Anreizsystem" öffnet einer repressiven Bestimmungen darüber Tür und Tor, welche "Leistungen" von den Sozialhilfe Beziehenden erbracht werden müssen. Sie führt zu einer enorme Ausweitung der Sanktionierungsmöglichkeiten innerhalb der Sozialhilfe. 2. Die Sozialhilfe als "Anreizsystem" ermöglicht es, mit Hilfe von innerhalb der Sozialhilfe willkürlich gesetzten "Leistungs"-Hürden das verfassungsmässig garantierte Recht auf Existenzsicherung zu unterlaufen. Allen denjenigen Betroffenen nämlich, die nicht bereit sind, einer auferlegten Massnahme sich zu unterziehen, können die Sozialhilfeleistungen ganz entzogen werden. |
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Stützung des "Anreizsystems" durch das Bundesgericht Zu Beginn der 2000er Jahre führten, wie angemerkt, verschiedene Städte das "Anreizsystem" in die Sozialhilfe ein. In der Folge kam es neu dazu, das Menschen gegen in ihren Willen in Integrationsprogramme gezwungen wurden (z.B. ins damalige "Taglohnprogramm" in Schaffhausen), dieses unter der Androhung, dass bei Verweigerung einer Teilnahme die Sozialhilfeleistungen gekürzt oder ganz gestrichen werden. In Reaktion darauf verweigerten Betroffene die Teilnahme, dieses mit der Folge, dass diesen tatsächlich die ganzen Sozialhilfeleistungen gestrichen wurden. Einzelne Betroffene wehrten sich bis vor Bundesgericht, und das Bundesgericht gab tragischerweise nicht ihnen, sondern den Gemeindebehörden, die die Sozialhilfe ganz gestrichen hatten, Recht. Damit erhielt das "Anreizsystem" gleichsam den bundesgerichtlichen Segen. Im angeführten Artikel (Nachweis links im Kasten) ist die Argumentation des Bundesgerichts nicht nur genau nachgezeichnet, sondern zugleich aufgezeigt, dass die Argumentation nicht überzeugt (vgl. im Detail dort). Das Bundesgericht argumentiert mit dem Subsidiaritätsprinzip, übergeht dabei aber, dass im Fall von Integrationsmassnahmen, die die Sozialhilfebehörden selber betreiben und finanzieren und worin eine Teilnahme genau nicht zu "Eigenständigkeit" führt, ein subsidiäres Verhältnis gar nicht vorliegt. Die Sozialhilfe kann nicht zu sich selber subsidiär sein. Das Bundesgericht zeigte sich nicht auf der Höhe der Materie. |
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Kurt Wyss Einstellung der Sozialhilfe infolge verweigerter "Arbeit". Ein kritischer Kommentar. |
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Sowohl infolge der in den Städten eingeführten "Anreizsystemen" als auch unter dem Eindruck der eben angesprochenen Bundesgerichtsentscheide revidierte die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ihre Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) per April 2005 (Motto der Revision: "Arbeit soll sich lohnen"). Neben einer Senkung der Ansätze um rund 10% verankerte sie in den Richtlinien das "Anreizsystem". Die Revision beruhte auf einer von einem Volkswirtschaftler (nicht etwa einem Sozialarbeiter oder einer Sozialarbeiterin) durchgeführten Evaluation der Richtlinien. Der im Juni 2004 veröffentlichte Evaluationsbericht enthält zur Frage des "Anreizsystems" den folgenden bemerkenswerten Satz:
Mit diesem Satz ist die oben unter Punkt 2 festgehaltene Konsequenz einer als "Anreizsystem" ausgestalteten Sozialhilfe in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Es habe zur Folge, "dass die Sozialhilfe für nicht erwerbstätige aber als erwerbsfähig eingestufte Sozialhilfeempfänger auf ein Niveau reduziert werden sollte, das mittelfristig nicht existenzsichernd ist". Das "Anreizsystem" in der Sozialhilfe führt für bestimmte Betroffene zwangsläufig - so ist der Satz zu lesen - zu einer Verweigerung des in der Verfassung verankerten Rechts auf Existenzsicherung.
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Die Folgen der revidierten SKOS-Richtlinien 2005 Im links zitierten Artikel wird darauf hingewiesen, welch schwerwiegende Folgen das ab 2005 in den SKOS-Richtlinien verankerte "Anreizsystem", einem der zentralen Elemente von "Workfare", haben wird.
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Kurt Wyss Workfare in der Sozialhilfereform. Die Revision der SKOS-Richtlinien in der Schweiz. |
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Die 2005 revidierten SKOS-Richtlinien hatten wesentlich auch die Folge, dass infolge der "Anreize" und der "Sanktionierungen" gar nicht mehr klar war, wo das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum überhaupt liegt. Neu gab es Sanktionierungsmöglichkeiten bis hin zur gesamten Streichung der Leistung; es gab einen Betrag ohne Integrationszulagen, einen Betrag zuzüglich einer minimalen Integrationszulage, einen Betrag zuzüglich einer mittleren Integrationszulage, einen Betrag zuzüglich einer (normalen) Integrationszulage sowie einen Betrag zuzüglich Einkommensfreibeträge in unterschiedlicher Höhe. Auf irgendeinem dieser vielen Niveaus wird der einzelne Betroffene von den Behörden eingestuft, und wer nur ein bisschen darüber nachdenkt, wird von selber darauf kommen, dass solche Einstufungen gerecht überhaupt nicht vorgenommen werden können. Die Einstufungen beruhen zwangsläufig auf Willkür, schaffen daher ebenso zwangsläufig Ungerechtigkeiten, verstossen gar gegen das Behinderten- und das Frauengleichstellungsgebot. Im Weiteren hat diese ganze in die Sozialhilfe implementierte Stufenleiter die Städte und Gemeinden geradezu dazu eingeladen, nach Belieben entweder auf Stufen zu verzichten oder neue Stufen (vor allem gegen unten) einzuführen. Das ist dann das genaue Gegenteil von Harmonisierung, dem eigentlichen Kernauftrag der SKOS.
Umso leichteres Spiel hatten in der Folge die Angreifer von rechts (insbesondere der "Weltwoche" und der Schweizerischen Volkspartei (SVP)), welche den Sozialhilfeinstanzen vorwarfen, den so genannten "Sozialhilfemissbrauch" zu fördern (vgl. dazu auch Kommentar K59). Das "Anreizsystem" suggeriert von sich aus ja bereits, dass die Betroffenen Sozialhilfe wesentlich deshalb bezögen, weil ihnen der "Anreiz" fehle, von selber sich "richtig" zu integrieren. Also müssten "Anreize" gesetzt werden und diese müssten dann, wie es im oben zitierten Satz aus dem Evaluationsbericht zur Revision 2005 hiess, bei gewissen Betroffenen zwangsläufig "nicht existenzsichernd" sein. Daran konnten "Weltwoche" und SVP, ohne gross etwas beizufügen, anknüpfen. Sie bezeichneten den grössten Teil der existenzsichernd ausgerichteten Sozialhilfe als Beförderung von "Sozialhilfemissbrauch" insofern, als damit kein "Anreiz" gesetzt werde. Mit dem "Anreiz"-Argument will den Betroffenen in der Tat unterstellt sein, sie hätten keine Eigenmotivation, die Sozialhilfe wieder zu verlassen. Die Unterstellung wurde in der Forschung längst schon widerlegt (vgl.: Gebauer, Ronald; Petschauer, Hanna; Vobruba, Georg: Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt. Berlin: edition sigma 2002). Zudem wird den Betroffenen mit dem Argument etwas unterstellt wird, was die Unterstellenden selber von sich - nämlich eben, keine Eigenmotivation zu besitzen - nie sagen würden. Warum sollen die Betroffenen nicht haben, was die Unterstellenden sich selber natürlich zuschreiben? Die Unterstellung einer bei den Betroffenen nicht vorhandenen Eigenmotivation bzw. eines deshalb nötigen "Anreizes" (=Sozialhilfe gegen Null tendieren lassen) ist nicht haltbar. Sie ist wesentlich das Resultat einer bösartigen Haltung gegenüber Arbeitsbetroffenen, welche ihrerseits gesellschaftliche Gründe hat (kann hier nicht entfaltet werden; vgl. oben zitiertes Buch zu Workfare). Diese Bösartigkeit nun aber steckt für sich bereits schon drin in der als "Anreizsystem" ausgestalteten Sozialhilfe, musste von "Weltwoche" und SVP nur noch zugespitzt werden. Als in den letzten Jahren einzelne Gemeindebehörden aus der SKOS austraten, taten sie das primär deshalb, weil sie das "Anreiz"-System als von der SKOS noch zu wenig zugespitzt empfanden, sie es so weit zugespitzt haben wollten, wie "Weltwoche" und SVP es unablässig propagierten. In Reaktion darauf gab die SKOS sich auf respektive warf sich der SODK zu Füssen. Die SODK (worin übrigens die Sozialdemokraten den Ton angeben) wird jetzt für die von "Weltwoche"/SVP/ausgetretenen Gemeinden geforderte Zuspitzung sorgen. Konkret läuft es darauf hinaus, dass die SODK versuchen wird - und zwar genau aus "Anreiz"-Gründen - möglichst viele Sozialhilfe Beziehende auf Nothilfe zu setzen, wobei geplant ist, zwischen "Nothilfe" und "Sozialhilfe" zu unterscheiden. Nebenbei bemerkt spiegelt sich darin die historisch unselige Trennung von "würdigen" und "unwürdigen Armen": für erstere die "Sozialhilfe", für letztere die "Nothilfe". Wie die SODK in ihrer Medienmeitteilung anmerkte (zitiert im 1. Teil: vgl. Kommentar K118), müsse "die Definition der Grenzlinie zwischen der Sozialhilfe und der Nothilfe aufgenommen werden". Man will aus "Anreiz"-Gründen immer mehr Menschen auf "Nothilfe" setzen, ihnen damit also das Recht auf ein "menschenwürdiges Dasein" (Art. 12 BV) verweigern. |
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